Nimm mich mit, Kapitän, auf die Reise!
Sehnsüchte brauchen Landkarten, um aus den Wogen des Ungefähren auftauchen und angesteuert werden zu können. Ein klares Ziel, ein klarer Wille. Wie schön, wenn es dazu noch jemanden gäbe, der den Weg kennt und einen mitnimmt auf die große Reise zum Ort der Erfüllung.
Meine Sehnsucht trug lange Weiß. Wie der gleichnamige Traumschiffkapitän der 8oer Jahre. Der ewige Hans Weiss auf der Kommandobrücke der MS Berlin. Auf dem Weg nach Acapulco, Feuerland oder Hawaii. Das fand ich als Kind schon toll. Zähne putzen, Schlafanzug und die große Fahrt. Wenn die Gangway runtergelassen wurde, war klar: Jemand verliebt sich, jemand verträgt sich, jemand verliert seine Sorgen. Bis zur Torte und zum Klatschmarsch hielten wir Kinder nur selten durch. Friedlich waren wir unterwegs irgendwo zwischen Welle Eins und Sonnenuntergang eingeschlafen. Das Schiff fuhr los, das Schiff kam an. Und alles war wunderbar.
Wenn ich darüber nachdenke: Objekte des Sehnens waren nicht Strände, knappe Bikinis oder Koffer voll Geld. Sehnsuchtsort war der Typ mit der Schirmmütze, der sagt: „Herzlich willkommen an Bord, meine Damen und Herren. Ich bin Ihr Kapitän. Das wird eine wunderbare Reise.“ Genauer: Es war ein Sehnsuchtsgefühl. Des sicheren Dabeiseins. Des Dazugehörens. Des Loslassens und erwartungsvollen Schauens, was kommt. Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, ist es eben noch nicht das Ende. Das suchte ich. Als Sehnsucht. Und fand ich.
Das süchtige Sehnen nach dem Traumschiffkapitän. Das war meine Kindheit. Als ich Jahre später ermattet auf einem Sessel saß und mit der Welt haderte, hatte sich das verändert. Der Kapitän war out. Jetzt war ich Chef. Mir gegenüber: ein Kapuziner-Mönch. Mit einem Lächeln auf den Lippen: „Vergiss nicht, Sven. Du kannst so viele Wege alleine gehen wie du willst. Der Macher sein. Der Schöpfer deines eigenen Weges. Im Christentum aber kommt auch der Punkt, an dem das ‚Du‘ wichtig wird. Nicht nur als etwas, dem du etwas geben musst. Sondern dem du dich ergeben kannst, darfst und sollst: ‚Surrender.‘ Damit das ‚Du‘ die Führung übernimmt. Als Traumschiffkapitän auf dem Weg zu deiner Sehnsucht.“
Damals hatte ich das mit dem Traumschiff vergessen. Sich jemandem anderen anvertrauen: Das war mittlerweile schwer zu verstehen, das zu akzeptieren nahezu unmöglich. Führungspersönlichkeiten hatten in unseren Breitengraden und unserer Generation ihre Unschuld verloren und eigentlich ausgespielt. Ob sie nun patriachalisch daherkamen oder als neue Weiblichkeit, spirituell, fürsorglich divers oder im neuen „dienenden Gewand“: Wer führte, füllte sich oligarchisch die Taschen, spielte Menschen gegeneinander aus, fuhr Unternehmen an die Wand und bereicherte sich und wusste eigentlich selbst nicht Bescheid, hörte sich selbst am liebsten reden, machte anderen etwas vor, liebte das Hof-Halten und vor allem sich selbst. Sich dem „Du“ ergeben. Oh mein Gott.
Dabei ist das mit dem Traumschiffkapitän eine alte Geschichte. Identitätsstiftend, wie der Psychologe sagen würde. Vor allem für die abrahamitischen Religionen. Das Volk Israel brauchte den Moses, um den Gang in die Freiheit anzutreten, in das Land, in dem Milch und Honig fliessen und das Volk Israel eins sein darf mit seinem Gott. Ganze Generationen von Künstlern und Wissenschaftlern haben sich mit der Figur des Moses auseinandergesetzt. Dem bärtigen Superhero mit den Gesetzestafeln, der Wolke auf dem Berg, dem Dornbusch. Legendär: Sein Bart. Und sein Zorn, mit der er die Steintafeln zerschmetterte, als seine Getreuen das Fest des Goldenen Kalbs feierten.
Ein Mensch fähig zu großen Gefühlen und fähig, diese im Zaum zu halten. Große Kraft entspringt einer großer Lebendigkeit. Und die wiederum benötigt eine starke Verbundenheit. Mit der Reise, den Menschen und dem Ziel: „Finding Israel und living it.“ Moses, das war der Vater-Traumschiffkapitän. Jesus, der Team-Traumschiffkapitän: Auf Augenhöhe. Inmitten seiner Jünger. Als er ging, blieb eine Taube. Vielleicht war es ja auch eine Möwe. Aus DEM Kapitän wurden VIELE Kapitäne. Jeder sein eigener: Schließlich gibt es so viele Wege in den Himmel und zu „Gott“ wie es Menschen gibt.
Das ist gut so. Und doch ermüdet es enorm. Klar kannst du allein Wüsten durchqueren und Bergpässe erklimmen. Tausende von Kilometern lang. Doch es gibt immer einen Punkt, an dem du die Hilfe anderer brauchst. Und außerdem. Wer will immer allein reisen?
In dem Moment, als ich mit dem Leben haderte, hatte ich nicht nur die anderen als Begleiter und Wegweiser abgeschrieben. Ich begann, mir selbst zu misstrauen. Meinen eigenen Schatten. Und ich begann zu wünschen, dass da jemand käme und mich auf einer wundervollen Reise herzlich willkommen hieße.
Doch den gab es nicht mehr. Weder der Garten Eden war spürbar noch der verheißene Himmel in Sichtweite. Da traf ich einen Jungen. Einen Flüchtling. Er war eine Fiktion, eine Figur in einem Kinofilm: Grand Budapest Hotel. Der Autor und Regisseur Wes Anderson hatte die opulente Tragik-Komödie auf die Leinwand gebracht. Ein Hotel in Altrosa, gelegen in den ostmitteleuropäischen Bergen und Schauplatz einer grandiosen Schlacht um ein Familienvermögen. Zéro Moustafa, so hieß der kleine Junge, startete als Lobby Boy und endete nach Jahrzehnten als unerkannter Besitzer des Anwesens.
Das Hotel war seine Heimat geworden. Nicht, weil er selbst weder die Geschichte der fiktiven Republik Zubrowka im Außen noch die Schicksale der vielfältigen Menschen im Inneren bestimmen wollte. Sondern weil er merkte, wie sehr das Hotel anderen eine Heimat gab und Bühne wurde für ihre Geschichten mit allen Sonderlichkeiten und Merkwürdigkeiten.
Er liebte die DUs und verschmolz mit dem Rahmen, dem Hotel. Aus Zéro wurde Monsieur Moustafa, die Leit- und Begleitmelodie für das Leben in Vielfalt.
Und da war er wieder, der Traumschiffkapitän. Immer noch fiktiv. Aber: Ein gefühlt echter. Gestorben als Star im Mittelpunkt, der bloß seinen eigenen Zielen folgt, wieder auferstanden als Teil einer Geschichte, die größer war als er selbst. Und die Platz ließ für viele andere Menschen und ihre Sehnsüchte. Ein Möglichmacher von Träumen. Ohne den Menschen und ihren Sehnsüchten im Weg zu stehen. Seine Route ist die Route der anderen. Dafür lebt er. Dafür strahlt er seine Sehnsucht aus.
Nicht in blendendem Weiß. Sondern in zartem Rosa. //