Einen neuen Morgen machen
Arbeit und Leben verändern sich, wie auch Glauben und Spiritualität. Frauen wollen anders leben, arbeiten und glauben. Ute Hamelmann und Martina Hesse haben mithilfe von Schauspiellehre und Innovationsmanagement ein Befreiungsbuch geschrieben. Wenn man das Christentum verändern würde: Wie kann das Ziel aussehen und wie gelingt ein Aktionsplan?
Selbst treueste Jesusfans seufzen mittlerweile: Vielleicht passt das einfach nicht mehr zusammen, das Christentum und der moderne Mensch des 21. Jahrhunderts. Die katholische Kirche: ein Abwicklungsfall. Reformunfähig, problem- und „sündenbeladen“. Vor allem in Europa. Würden Sie ihnen Recht geben?
Warum sollte das Christentum nach rund 2000 Jahren plötzlich nicht mehr zum Menschen passen? Zumal ja gerade jene Kirchen Zulauf haben, die sich betont unzeitgemäß geben. Abgesehen davon, braucht auch nicht jeder eine Amtskirche. Die Kirche selbst hat ja verschiedene Rollen, sie ist der zweitgrößte Arbeitgeber in Deutschland. Systemisch betrachtet, kann man die Kirche wie jede andere Organisation analysieren und schauen, was fehlt, was führte zu diesem Status, den wir aktuell haben. Das lässt sich schon erklären. Stichwort Pfadabhängigkeit und wenig Innovationsfähigkeit. Aber die gute Nachricht: Mankann sich verändern! Man muss es nur tun und sichtbar machen. Einen Aktionsplan zu entwerfen, um das Christum an sich zu verändern – das erscheint mir schon als Ideegrößenwahnsinnig. Warum und wohin auch?
Sie beide verstehen sich selbst als Apologetinnen einer „female future“: Was heißt das und was bedeutet das für Spiritualität im Allgemeinen, das Christentum im Speziellen?
Wir sind schon der Überzeugung, dass wir im Sinne von Hartmut Rosas Resonanzkonzept zu einer Art neuer Weltverbundenheit kommen müssen, auch um den Klimawandel abzuschwächen. Momentan entfremden wir uns ja mehr und mehr von uns, unserer Arbeit und der Natur. Der Konsum macht uns blind für so viele andere Möglichkeiten, unser Leben mit Schönem aufzuladen. Wir müssen wieder stärker unsere menschliche Komplexität entdecken. Mit allen Sinnen die Welt wahrnehmen. Dazu gehört natürlich auch Spiritualität. Aber gerade Spiritualität ist etwas so Subjektivpersönliches, dass wir es nicht auf bestimmte Geschlechterrollen reduzieren sollten.
Und was bedeutet das für die institutionelle Verfasstheit, das System Kirche?
Auch das kann man nicht pauschal beantworten. Es gibt schon sehr schöne neue Organisationsmodelle, wie sie Frederic Laloux beispielsweise in seinem Buch Re:Inventing Organizations vorstellt. Teams, die mit Organisationsrahmenwerken wie Soziokratie oder Holokratie arbeiten, die sehr demokratisch funktionieren. Sie haben auch einen starken Sinn, der sie trägt. Dieser Sinn, oder Purpose wie jetzt viele sagen, wird von jeder einzelnen Mitarbeiterin und jedem einzelnen Mitarbeiter gelebt und gibt der Organisation eine Ausrichtung. Das kann man auch auf die Kirche übertragen, dann müssten die Hierarchien wegfallen. Das geht aber nur, wenn man die Kirche als normalen Dienstleister sieht, nicht wenn Hierarchien als theologisch notwendig gelten.
Wie kommt man hier in ein „dynamisches Denken“?
Einfach machen. Wir sind da sehr bei Jean Piaget und den Konstruktivisten, die sagen, man lernt nur durch Handeln. Indem man Dinge ab sofort anders macht. Im Kleinen anfangen, gucken, ob es funktioniert und dann auf größere Einheiten übertragen. Immer vom Kleinen ins Große.
Sie sprechen von der Kraft des „Wiederverliebens“ in das eigene Leben. Kann man sich auch in seinen eigenen Glauben wiederverlieben?
Absolut. Neulich hörte ich einen Podcast mit Thea Dorn, die durch Corona verstärkt zum Glauben gefunden hat. Bei mir stelle ich fest, dass es auch eine Altersfrage ist. Und es ist schön, wenn man da auf Bekanntes aufbauen kann, wenn man sich in etwas hineinfallen lassen kann, was man aus Kindertagen kennt.
Decoding ist eine Ihrer Grundansagen: Enttarne dein Denken und entdecke mentale Modelle und kognitive Verzerrungen. Was könnte das für das Christentum und die Kirche bedeuten?
Erstmal muss man sich bewusst werden, dass diese mentalen Modelle da sind. Sie sind nicht nur schlecht, sie helfen uns auch nicht bei Veränderungsprojekten. Es gilt seine eigenen mentalen Modelle radikal zu hinterfragen. Dazu versetzt man sich am besten in die Lage eines Fremden. Man geht wie ein Tourist durch sein eigenes Unternehmen: Wie wirkt das eigentlich? Farben? Kleidungscode? Was laufen da für Menschen rum? Wie kommunizieren die miteinander? Das sind Codes und Konstrukte mit Geschichte. Und die gilt es zu hinterfragen: Muss das wirklich so sein?
Was ist aus Ihrer Sicht der Kern des Christentums und wie könnte er zeitgemäß entdeckt und gelebt werden?
Das ist vermutlich für jeden sehr unterschiedlich. Ich persönlich mag von der Begrifflichkeit und Bedeutung her die Barmherzigkeit gern. Für mich ist das ein Sinn, ich fühle mich da sehr getröstet und aufgehoben. Aber das ist doch das Spannende unserer Religion, das Christentum ist so vielfältig, da kann sich jeder von uns seinen Sinn heraussuchen.Das, was sie oder ihn am Tiefsten im Innern berührt ist dann der Sinn. Vielfalt wäre so gesehen ein Kern. Ich liebe die Vielfalt des Glaubens.
Wie beginne ich nun ganz konkret mit dem Neuanfang, und wohin soll die Reise gehen?
Am besten ist doch das eigene Vorleben und das eigene Gestalten. Wenn viele Veränderung wollen und es aktiv tun, dann wird auch etwas passieren. Die meisten großen Veränderungen gingen von einzelnen Menschen aus.
Geht Kirche agil?
Alles geht agil, man muss es nur wollen. Agilität ist jedenfalls sehr demokratisch. Man muss dann halt selbst mitmachen, selbst diskutieren, auch mal Dinge aushalten. Es ist jedenfalls nicht mehr Berieselung.
Sie rufen dazu auf: Spiel mit dem Wunder. Verändert gemeinsam die Welt. Was haben wir zu erwarten?
Veränderung kann ganz schnell gehen. Menschen können ziemlich flott und selbstorganisiert in einen gemeinsamen positiven Flow kommen und neue Muster ausbilden, wenn sie motiviert sind, wollen und eine gemeinsame Ausrichtung haben. Wir haben da ein schönes Beispiel in unserem Buch, aber wir wollen nicht zu viel verraten.
Vielen herzlichen Dank für das Gespräch!