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Eros und Thanatos. Ein Geschwisterpaar

Sexualität und Todesfurcht seien die beiden großen, dem Menschen innewohnenden Triebe, meinte Sigmund Freud, der Begründer der modernen Psychoanalyse. Sven Schlebes ist dieser Theorie nachgegangen.

„Warum machen wir das eigentlich hier?“ Ich zog gerade meine Unterhose herunter und freute mich auf das Tete-a-Tete mit meiner Frau. 30 Minuten Fleischesglück zwischen Videokonferenzen, Schule und Mülltütenentleerung. „Was?“, entgegnete ich. „Die Bettnummer!“ Meine Frau, die Stimmungskillerin. Sekundenermattung. Das kann sie wirklich gut. Schrumpelattacke. Da lachte sie: „Lass dich nicht so hängen. Sag doch einfach: Weil es gut ist!“ Aus 30 Minuten wurden 45.

Sicherlich. Sex bei Lichte betrachtet ist aberwitzig, lächerlich, verstörend, anstrengend, unnötig, ineffizient. Ganz oft: keine Lösung. Just Bodytalk, wenn alles gesagt ist. Letzter Ausweg. Erster Versuch. Glaubt man der Sexualwissenschaftlerin Bettina Stangneth, leben wir im Zeitalter der Restlust. Eigentlich „ganz natürlich“, und doch in einer emotional-intellektuellen diamentralen Verkrampfung unendlich zerredet und zugleich umhüllt mit zahlreichen Tabus. Sex ist und war unendlich kompliziert.

Als Erotik ein JA zum Leben, findet der Kreativdirektor des französischen Glamour-Magazines Thomas Lental. Als Pornografie dagegen durchleuchtet, bar jeder Zärtlichkeit und nackt in seiner Basalität offenbart eher ein Versprechen auf die doch eigentliche Übermacht des Todes, die die Kopulierenden anzutreiben scheint: Bloßes Fortpflanzungsgeklatsche mit dem eigenen biologischen Ende im Nacken und dem neuen Leben im Spermium, das bei uns modernen Paaren jedoch zugleich sorgfältig chemisch abgetötet im Präservativ binnen Minuten vertrocknet: „Bloss nicht noch ein Kind.“ Körpersäfte minus Gefühl gleich Überleben im Lebenskampf.

Dabei, so der oft zitierte französische Philosoph Bataille, war und ist zumindest die Erotik ein absolutes Ja zum Leben: Die Sehnsucht nach dem Anderen, der Überwindung des Abgrundes durch die Hoffnung auf Begegnung. Und das Opfer des eigenen Selbstverlustes. Der „kleine Tod“, wie der Orgasmus auch immer wieder schön poetisch genannt wird, als lustvolles eigenes Ende. Bataille wäre nicht Bataille, wenn er dem romantischen Vereinigungsgesäusel nicht mit seinem scharfen Schwert ernüchternder Relativierung begegnete: Erotik, die erweiterte Sexualität, sei zwar inneres Erleben, innere Erfahrung, angetrieben von einer Suche nach Erfüllung bei Objekten im Äußeren. Doch die Verschmelzung auf irdischer Ebene bleibe letztlich Illusion. Seit Platons Kugelmenschen sind wir physisch getrennt. Und nicht kittbar. Auch die schönste Erotik und der leidenschaftlichste Sex überwinden die Trennung: Nicht!

Für den Vater der modernen Psychoanalyse, Sigmund Freud, waren der Sexualtrieb und die Todesfurcht, benannt nach den griechischen Göttern des körperlichen Begehrens „Eros“ und des Todes „Thanatos“, allen Menschen innewohnende Triebkräfte, die unser Leben mehr oder weniger aus dem Unterbewusstsein heraus antrieben und steuerten. Von Ferne betrachtet Gegensätze. Aus der Nähe: Geschwister. Oder bierseeliger ausgedrückt: Kopulationspartner. Sie halten uns Menschen im Lebenslicht. Fernab vom Dunkel eines ungewissen Todes; Eros und Thanatos damit eigentlich zusammen eine „Vergeltung am Tod“ (Philipp Roth).

Der Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki soll laut eigener Biografie im Warschauer Ghetto seiner zukünftigen Frau tröstend zur Hilfe geeilt sein, als sie weinend vor ihrem strangulierten Vater stand: Selbstmord. Seine Hand sei dabei von der Schulter zur Brust gesucht und dort minutenlang verweilt – ohne Widerstreben. Verstörende Vertrautheit mit Verschmelzungslust angesichts des grauenvollen Endes inmitten einer Todesszenerie.

Und auch die oft als „Meisterin der erotischen Literatur“ bezeichnete Anais Nin lässt in einer ihrer Kurzgeschichten eine Frau einer öffentlichen Hinrichtung beiwohnen und den gleichzeitigen Sexualakt mit einem nicht sichtbaren Fremden in einer amorphen, sensationslüsternen Zuschauermasse des Spektakels erleben: „Als der Verurteilte in Leere und in den Tod stürzte, begann der Penis in ihr heftig zu zucken und spie sein warmes Leben aus.“ (A. Nin. Die verborgenen Früchte).

Als ich kurz nach meiner Studiumsdepression meiner Gesprächstherapeuthin gestand, dass der Agent der Königin, James Bond, mein leuchtender Männlichkeitsarchetypus war, schrie sie mir förmlich entgegen: „So in Scheißkerl!“ Aus der Therapie, die mich eigentlich von den geistig-seelischen Wunder der französischen Existenzialisten und Nihilisten befreien sollte, ging ich damals noch verstörter hervor. Nicht nur der Mensch war anscheinend ein Sein, „das nicht das ist, was es ist, und das das ist, was es nicht ist.“  (Sartre). Sondern vor allem der Mann schien ein „Überhaupt-Nichts“ zu sein. Weil er die Frau unterdrücke. Und damit – ganz existenziell – ein Schwein ist. Heute ahne ich: Dieses Geschlechterding war der Kampf meiner Therapeutin. Mich hatte an Bond jedoch damals nicht nur fasziniert, dass ihm die Frauen dahinschmolzen. Er schien auch auf ewig den Tod zu besiegen. Zumindest das Sterben zu umgehen: „Live and let die.“ Denn in die Luft flogen immer die Anderen. Und über die Jahrzehnte blieb Bond Bond. Während wir gefühlt jeden Tag ein bisschen sterben. Wenn es gut läuft. Uns also verändern: Körperlich. Geistig. Seelisch. Und irgendwann selbst draufgehen im Spiel des Fressens und Gefressenwerdens.

Manchmal glaube ich: Wäre Jesus Christus ein Gott im Bett gewesen, also ein Meister des Sexes und des Todes, dann wäre das Christentum ein Verkaufsschlager: Lustvoll leben, liebend sterben und ewig leben. Das mit dem Tod ist überliefert. Das mit dem Bett bleibt Esoterikern zu Folge Magdalenas Geheimnis.

Aber so wurde aus dem eigentlich prädestinierten Erotik-Todesüberwinder-Gott Jesus das überhöhte Liebesopfer des Herrn, der zunächst seine Allmacht opferte und ein singulärer Mensch wurde: Göttlicher Selbstmord zugunsten irdischer Schöpfung. In der er dann – wie alles Leben – dem Sterben geweiht war, den Tod überwand und das eigentliche Leben fand. Sowas muss man sich auch erstmal ausdenken. Seine Überbleibsel: die omnipotente Allmacht, schlafend als Samen in allem Irdischen. Heiliger Geist. Genährt und geweckt durch das Abendmahl. Opferverspeisung. Für Bataille die höchste Liebesform – die heilige Erotik. Im Bewusstsein dieser Einheit sei die ganze Erotik die Bejahung des Lebens, die im Tod gefunden wird. Der wirklichen wahren, ewig dauernden Einheit, deren Unterbrechung das Leben sei. Und der Orgasmus als Moment des Vergessens die Erinnerung an das große Ganze. Junge, Junge. Großes Kino. Voller Ernsthaftigkeit und Pathos.

Im Studium habe ich diese Wortspielereien geliebt. Und bin daran verzweifelt. Haben sie geholfen, dass mein Sex besser wurde? Nein! Helfen sie Menschen, die einen geistlichen Weg für sich gewählt haben, im Frieden mit ihren eigenen „Triebkräften“ zu leben? Anscheinend nur begrenzt.

„Warum machen wir das eigentlich hier?“, fragte mich meine Frau vor unserem letzten Akt.
„Weil es gut ist!“, rufe ich heute aus innerer Überzeugung entgegen.
Todesfurcht hin. Erotik her.
That’s life.

Der Text ist abgedruckt in:
theo. Das unabhängige katholische Magazin, 2020/04, S. 34-36.

http://www.theo-magazin.de