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Eine sichere Sache

Waschen – Hinlegen – Einschlafen. Für immer. Am besten reflexiv: „Ich mich selbst.“ Das wäre mein Traum. Jahrelang habe ich nicht verstanden, warum mein Vater das Aufräumen so liebt. Das Wegwerfen. Je klarer der Raum, um so freundlicher seine Augen. Das war und ist seine Art der Friedens- und Seelenarbeit. Cradle to cradle. Bis die Sonne hinter dem Gebirgskamm verschwindet.

Es war Hochsommer, als ich den Alpensalon von Miriam Wolf betrat, um mit der Münchnerin ein Gespräch zu führen über die Kunst der Sterbens mitten im Leben. Vorhänge in Weiß hielten Wind und Sonne draußen. Der Laptopdisplay leuchtete. Clean und aufgeräumt. Virtuelle Coronainterviews reduzieren alles auf das Notwendigste. In normalen Zeiten ist der Alpensalon dort, wo es schön ist: In den Bergen zwischen den Bäumen. Mit Menschen, die suchen und finden. Für sich selbst, ihre Partnerschaft, Gemeinschaften und Organisationen. Was den Orden ihre Seminarhäuser und Klöster, ist für Wolf die Natur: „Am liebsten Draußen. Da ist Gott mir am Nächsten. Aber eigentlich sind die materiellen Räume egal. Es sind die Menschen, die zählen.“ Salonhalten ist eine Kunst, die Wolf und ihre Mitgastgeberinnen und -gastgeber nach über 8 Jahren auf einer hohen Stufe zu beherrschen scheinen. Am Anfang stand bei der gelernten Organisationsentwicklerin der Wunsch nach einem Austausch unter Gleichgesinnten. Vor allem Frauen fanden den Weg an den virtuellen Tisch: Körper; Empowerment; Ankommen; Selbstliebe. Keine Esoterik, sondern echtes Bedürfnis, das weder in Unternehmen noch der Kultur oder den organisierten Religionen ge- und erfüllt werden konnte. Ein klassisches Lehrstück vom Suchen in etablierten Formen, dem Aufbruch ins Unbekannte und dem überraschenden Finden und Gefunden-Werden. Das Suchen der Frauen in den Salons jedenfalls fand neue Besucher: gelingende Übergange, gutes Arbeiten und intensives Lieben sind nicht nur Universalia des Lebens. Sie betreffen jeden – unabhängig vom Alter, Geschlecht, der Kultur- und Religionszugehörigkeit. Es waren die Gedanken um die schwer erkrankte Mutter eines Salon-Mitgastgebers, die vor fast drei Jahren den Tod als Retreatthema in den Veranstaltungszirkel einlud: Wie die schwarze Dornröschen-Fee klopfte das basalste aller Themen an die Türen des Alpensalon und forderte Einlass: „Sieh mich an. Nimm mich auf. Tanz mit mir.“ Stand im ersten Trauersalon noch die Trauerarbeit im Vordergrund, veränderte sich der Fokus in den letzten zwei Jahren. „Denn nicht nur die Anderen sterben und ich muss damit umgehen. Ich selbst werde sterben. Ganz sicher.“ Sterben im Leben klinkt dramatisch, heißt aber nicht anderes, als sich der eigenen Endlichkeit und damit des Wertes „Leben“ bewusst zu werden. Das verkünden nicht nur die unzähligen Motivationspostkarten, die wir uns gegenseitig an Feiertagen verschicken und mit Magnettäfelchen an unsere Kühlschränke pinnen. Das wissen wir spätestens seit dem Tag, an dem der oder das, was wir liebten, nicht mehr war: Ob Opa, Lieblingstier oder Spielzeug. Alles ist, geht kaputt und ist dann nicht mehr.

Wir starten in unseren Todes-Salons immer mit Bausteinen für den Kopf: Vorträgen über das Thema aus wissenschaftlicher Sicht. Auch Kunst und Geschichte spielen eine große Rolle. Wie haben Menschen das Thema „Sterben und Tod“ erfahren? Was ist das eigentlich, Sterben? Und wie kann man sich den unbegreiflichen Tod eigentlich vorstellen?“ Wolf nennt das Brainfood. Zeug, um den Kopf und seine Gedanken ruhig zu stellen: Die Wissenschaft hat festgestellt. Wenn der Kopf ruhig wird, kann der Körper sprechen. Und das tut er. Atem-, Meditations- und Tanzübungen führen im zweiten Teil des Salons die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach Innen, bevor es dann ans Eingemachte geht: Der eigenen Endlichkeit entgegen. Im Mittelpunkt des eigentlichen Salons steht der Bau einer eigenen sogenannten „Todeshütte“. Ein Ritual, das die Tradition indigener Völker aufgreift, deren sterbenden Angehörigen sich zum Sterben an den Rand der räumlichen Gemeinschaft begeben haben und sich in der Zurückgezogenheit mit ihrem gelebten Leben befassten und zugleich frei machten für den bevorstehenden Übergang. „Aufräumen“ würde mein Vater das nennen. Miriam Wolf nennt das „die Faule-Eier-Schau“. Wie auch immer. Was dann folgt, nennen die Altgriechen und Theaterliebhaber unter uns: Katharsis. Das Erschaudern der Seele. In Schrecken und Verzückung zugleich. „Wer die Einsamkeit und Dunkelheit seiner Todeshütte verlassen hat, sieht sein Leben klar: Die Diamanten und die offenen Enden.

Das Schöne am Todesretreat im Alpensalon-Zirkel: Nach dem symbolischen Sterben in der einsamen Todeshütte ist die Wiedergeburt in der Gemeinschaft: Trinken. Lachen. Essen. Neu erwachte Liebe und Lebendigkeit. Zunächst in der Retreatgemeinschaft und dann im großen Lebenskontext genannt Alltag. „Sterben ist eine Gande für den, der überlebt und neu leben kann. Anders. Intensiver.“ Miriam Wolf wird wissen, wovon sie spricht. Im Herbst wird sie bereits ihre vierte Todeshütte bauen. Wenn die Sonne hinter den Bergkämmen verschwindet, Blätter fallen und die Luft so schön klar wird. Bereit für einen tiefen Atemzug, um die Lungen mit neuen Leben zu füllen. Cradle to Cradle.

Sterben im Leben. Die Fastenzeiten vor Weihnachten und vor Ostern waren ursprünglich genau dafür mal deklariert worden: Aufräumen. Loslassen. Frieden machen. Endlichkeit schauen. Zulassen. Neu werden. In der totalen Dunkelheit das Licht finden, selbst zum Licht werden. Jenseitig. Diesseitig. Dazwischen. Lieben nennen wir Christen das.

Doch wann, Sven, bist du eigentlich den Weg eigentlich bewusst gegangen. Den ganzen?

Und nicht nur unter dem Tannenbaum aufgewacht?

Als mit dem Videokonferenzfenster auch der Alpensalon seine Türen schloß in diesem heißen Sommer 2021, bließ ein Windstoß die Vorhänge in Weiß vorm Fenster beiseite.

Der Wolf hatte gesprochen.

Mittlerweile muss man nicht mehr Franziskus heißen, um zu verstehen.

Sondern einfach gehen.

Den Weg.

Der Liebe ist.

Bis zum Ende.

Der ein Anfang ist.

Infos:
www.alpensalon.org