Andrea Löhndorf. Kintsugi – Die Schönheit im Unvollkommenen
theo-Autor Sven Schlebes sprach mit Andrea Löhndorf über ihr neues Buch Kintsugi und „Die Kunst, schwierige Zeiten in Gold zu verwandeln.“
Eine Teetasse ziert das Cover Ihres neuen Buches: Kintsugi. Die Kunst, schwierige Zeiten in Gold zu verwandeln. Ein Bild voller Poesie. Zerbrechlich, und doch unglaublich stark. Sie sehen in „Kintsugi“ eine Metapher für das Leben. Wie würden Sie den Kern dieser japanischen
Lebensphilosophie beschreiben?
Kintsugi ist im engeren Sinne ein japanisches Kunsthandwerk, das Keramik-Reparatur meint. Meister dieser alten Tradition verfügen über die Fertigkeit, aus Scherben mithilfe von Goldpuder Kunstwerke zu schaffen, die noch kostbarer sind als die ursprünglichen Gegenstände. Und es erzählt eine Geschichte: von Brüchen und Heilung, von Verlust und Versöhnung, von Trennung und Neubeginn. Daraus hat sich eine Lebensphilosophie entwickelt, die uns hilft, mit Niederlagen positiver und kreativer umzugehen. Es gibt kein Leben ohne Brüche, Kintsugi bedeutet, die Scherben des alten Lebens aufzulesen und daraus ein neues zu erschaffen – ein Leben, das, indem es den Schmerz integriert und verwandelt, noch erfüllter sein kann als das verlorene alte. Das Bild ist deshalb so anrührend, weil es einen uralten Menschheitstraum quasi wie ein „Handwerk“ möglich zu machen scheint: durch Wunden und Rückschläge zu wachsen und stärker zu werden, statt daran zu zerbrechen.
Der Franziskaner Richard Rohr, der sich in seinem Leben sehr stark mit dem Thema Männlichkeit aus spiritueller Sicht beschäftigt hat, rät seinen Geschlechtskollegen zu akzeptieren, dass das Leben hart ist und manchmal ungerecht. Sie plädieren mit „Kintsugi“ eher dafür, das Leben als Kunstwerk zu begreifen. Ein Ansatz, der zum Beispiel mein Herz öffnet.
Ich würde Richard Rohr in gewissem Sinne recht geben: Das Leben ist oft nicht fair. Es rechnet in einer Währung ab, die wir nicht verstehen: mit unverdientem Pech und Glück. Ein gewisses Maß an Akzeptanz steht deshalb am Anfang jedes Prozesses einer Krisenbewältigung. Doch wenn der erste Schock und Schmerz abgeklungen sind, können wir beginnen, kreativ mit schwierigen Situationen umzugehen – in dem Vertrauen darauf, dass kein Bruch das Ende bedeutet, sondern eine Station auf einer Reise. Pablo Picasso sagte einmal: „Wenn mir das Blau ausgeht, male ich mit Rot weiter.“ Das ist die Lebenskunst von Kintsugi: Wir wagen den Versuch, die Scherben des Lebens zu vergolden. Krisensituationen stellen Fragen an uns, die uns helfen, unseren weiteren Weg neu zu gestalten: Was habe ich Gutes erreicht, und was möchte ich bewahren? Was fühlt sich falsch an? Es ist diese Auseinandersetzung mit sich selbst, zu der jeder Bruch uns auffordert.
Die Philosophie des Wabi-Sabi besingt die Schönheit des Unvollkommenen im fortlaufenden Wandel. Ein Graus für eine Gesellschaft, die angesichts einer grassierenden Pandemie und zahlreicher systemischer Krisen von Beherrschbarkeit träumt. Schwere Zeiten für eine Liaison mit der Unvollkommenheit?
Japan wurde häufig von Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Tsunamis betroffen. Wenn Vergänglichkeit und Neubeginn so sehr Teil des Lebens werden, erscheint es als ein genial-kreativer und auch heilsamer Weg, in Unvollkommenheit Sinn und Schönheit zu finden. Deshalb ist Wabi-Sabi in der derzeitigen Pandemie eine wertvolle Philosophie, die sich zu entdecken lohnt. Zu Beginn der Pandemie ließ sich viel Kreativität beobachten: von singenden Italienern auf ihren Balkonen bis zu Orchestern, in denen Internet-User über das Netz zusammen spielten. Mittlerweile scheint uns allen die Puste auszugehen. Im Wabi-Sabi geht es darum, den inneren Widerstand aufzugeben gegen das, was geschieht, und in sich Raum für ein Ja zu schaffen. Das setzt die Kräfte frei, die wir brauchen, um schwierige Zeiten besser zu überstehen. Die Botschaft des Wabi-Sabi: Nichts ist für immer abgeschlossen, jede Geschichte geht weiter.
Ähnlich wie im Christentum spielt auch im Kintsugi das Prinzip der Selbstliebe, hier verstanden als Selbstmitgefühl, eine große Rolle. Was ist das für Sie: Selbstmitgefühl?
Wir alle brauchen Wertschätzung für uns selbst, um heil durchs Leben zu kommen, und erst recht durch schwierige Zeiten. Wir tendieren in solchen Situationen übermäßig dazu, uns selbst abzuwerten und zu verurteilen. Hier gilt es, den Wabi-Sabi-Blick auch auf sich selbst auszuweiten und das Herz für die eigenen Unzulänglichkeiten zu öffnen – eine „selbstfreundschaftliche“ Haltung zu sich selbst zu entwickeln. Das Konzept des „Selbstmitgefühls“ lehrt mithilfe von meditativen Übungen, achtsam und freundlich mit sich selbst umzugehen, sich bewusst zu sein, dass niemand makellos sein muss, um liebenswert zu sein.
Die Einfachheit des Lebens – ein Dauerbrenner bei allen Zivilisationsmüden und Antimodernisten.
Die Sehnsucht nach Einfachheit ist kein Phänomen unserer Zeit, wir finden sie schon in den frühen Zeiten unserer westlichen Kultur, in der Stoa etwa und in den klösterlichen Traditionen. Im Zen und in den japanischen Künsten wurde und wird sie besonderes kultiviert, sei es im Ikebana, in der Gartenkunst oder der Teezeremonie: Alles ist aufs Wesentliche reduziert, Überflüssiges wird weggelassen. Und gerade das gibt dem Geist den Freiraum, um schöpferisch tätig zu werden. In unserer immer komplexer werdenden, lauten Welt sind Stille und Einfachheit zum Luxus geworden.
Männern generell und Vertretern der Generation Y wird eine Sehnsucht nach dem Sinn des Lebens unterstellt. Ein Leben für etwas Größeres. In Ihrem Buch erwähnen Sie das Prinzip des „Ikigai“. Die innere Erfüllung eines Menschen. Wo liegt sie denn nun, diese Quelle des inneren Glücks?
Die Fragen, die Ikigai uns stellt, lauten: Was ist für uns der wichtigste, freudigste und inspirierendste Grund, um morgens aufzustehen? Wofür lohnt es sich zu leben? Der persönliche Lebenssinn leitet sich nicht aus einem philosophischen System her, sondern aus einer ganz persönlichen Leidenschaft für etwas, was uns wichtig ist und was wir tun. Das kann uns tatsächlich durch schwierige Zeiten tragen.
Sich ständig zu verbessern, ist ein Grundsatz unserer Zeit: Optimiere dich selbst. Ist das der Sinn von Kaizen, wie Sie ihn in Ihrem Buch verstehen?
Kaizen ist ein Konzept aus der Wirtschaft und bedeutet tatsächlich eine „kontinuierliche Verbesserung“ in kleinen Schritten. Ich habe es in dieses Buch allerdings eher als asiatischen Gegenentwurf zur gängigen Erfolgsphilosophie des „Think Big“ aufgenommen. Ein Problem, mit dem wir in Krisensituationen häufig konfrontiert werden, ist das Gefühl der Lähmung: Kaizen reduziert die Angst, Ziele nicht zu erreichen, weil man sich so kleine, erreichbare Ziele setzt, dass Widerstände gar nicht erst aktiviert werden. Entscheidend ist, dass es nicht darum geht, der oder die Beste zu sein, sondern sein Bestes zu geben.
Wir Männer sind Solisten. Und sehnen uns doch zugleich nach einer Gruppe, zu der wir gehören. Einem Team. Mit Fahne, Logo und Lied: Die Philosophie des Yui Maru, so wie Sie es beschreiben, verweist jedoch eher auf den Wert einer echten und erlebten Gemeinschaft. Wo finden wir so etwas heutzutage bei uns?
Wie der Rest der Welt stehe ich noch unter den Eindrücken des Wahlkampfkrimis in den USA. Die tiefe Spaltung, die dieses Land durchzieht, spiegelt sich auch an vielen anderen Orten wider, Stichworte sind Brexit, IS oder Coronakrise. Befeuert wird dieses „Wir gegen sie“-Denken zusätzlich in den sozialen Medien, es scheint heute immer schwieriger zu werden, friedlich auf jemanden zuzugehen, der eine andere Meinung vertritt als man selbst. Yui Maru ist eine Lebenshaltung, die das Miteinander betont. Entstanden ist der Begriff auf der Inselgruppe Okinawa, die durch die Langlebigkeit ihrer Bewohner einen hohen Bekanntheitsgrad erlangt hat, was zum Teil auch auf ihren ausgeprägten Gemeinschaftsgeist zurückgeführt wird. Wenn wir heute etwas brauchen, dann ist es die Bereitschaft, mehr Versöhnung zuzulassen. Stephen Hawking warnte kurz vor seinem Tod in geradezu prophetischer Manier, dass das Überleben der Menschheit davon abhänge, ob die Empathie sie retten könne.
Sie raten den LeserInnen Ihres Buches, ihr eigenes Kintsugi-Leben zu entwickeln. Was verstehen Sie darunter?
Das Bild eines Menschenlebens, durchzogen von feinen goldenen Linien, die seine nicht vollkommene, doch mit all seinen Brüchen bedeutsame und wertvolle Geschichte erzählen, hat etwas zutiefst Versöhnliches und Menschliches – und steht in krassem Gegensatz zu unserer auf Perfektion getrimmten, durchgestylten Hochglanzwelt, in der jeder Makel effizien eliminiert werden muss. In unserer Zeit der Selbstoptimierung suchen wir viel zu oft nach den perfekten Lebensläufen, statt uns zu fragen, was wirklich wichtig für uns ist. Kintsugi ermutigt, das Bild des „Lebenskünstlers“ für sich neu zu definieren und zu leben. //
Das Interview wurde abgedruckt in: theo. Das unabhängige katholische Magazin. 5/2021, S. 52f.

Andrea Löhndorf
„Kintsugi. Die Kunst, schwierige Zeiten in Gold zu verwandeln.“
Scorpio Verlag. München 2020.