Loading...

Persönliche Wandelmomente: Rosa Zeiten.

Sven Schlebes (c)

Ein Hauch von Nichts kann zu viel sein, um weiterzumachen wie bisher. Weil es in seiner Leichtigkeit schwerer wiegt als alle Zweifel deiner alten Welt und in seiner Klarheit deine Lebensgeister betört. Mein alles veränderndes, weil gut machendes Nichts lag in Lachsrosa vor mir auf dem Küchentisch. Es war Samstag, mitten im Coronasommer. Die Hitze drückte. Eine entblätternde Berührung mit leichtem Knistern. Ein schwacher Vetiver-Geruch durchzog die Luft. Die Zeitungsverkäuferin hatte mir die Financial Times und die Gazetta dello Sport im berühmten Lachston (Rosa) diesmal mit einem besonders langen Lächeln über die Theke gereicht. Die Feuchtigkeit ihrer Finger hinterließ Spuren im Papier.
br>

Das Studium. Rosa Brille, rosa Zeiten

Vor über 20 Jahren kamen die rosafarbenen Zeiten während des Studiums im Abo zu mir. Als Vorbereitung auf ein gutes Leben mit wirtschaftlichem Sachverstand. Dass publizistische Brillianz, große Emotionen und libertäre Eleganz rosa sein konnten, nahm ich damals nicht bewusst wahr. Dafür umso mehr das Lachen meiner KommilitonInnen über meine Vorliebe für alles andere rosafarbene im Leben wie Hemden, Pfefferkörner in belgischer Schokolade, Pokemonuhren und mit Glitzersteinen überzogene Computermäuse:„Schlebes, du warmer Bruder. Du wirst nie einer von uns.“ Gemeint war damit so ein richtig echter Mann, mit Anzug, Beraterbrille und Aktentasche. Aber eben in Blau.

Dann kam das harte Blau

Ich blickte in den Spiegel und sah auf einmal einen anderen Sven. Den Outsider. Einen, der nicht mehr dazugehörte. Von jetzt auf gleich. Das Strahlen verschwand im Schwarzblau des anbrechenden Abends. Verzweifelt dreht ich den Kopf zur Seite und versank mit meiner Magisterarbeit im dekonstruktivistischen Sumpf: Judith Butler, Michelle Foucault, Jaques Derrida. Nietzsche. Sie alle nahmen die ICH-Stereotypen auseinander, ihre Konstruktion, ihre verborgenen Machtmechanismen. Eigentlich lieferten sie mir Schützenhilfe für ein gelingendes Leben im Rosa. Aber die Leichtigkeit des Rosa verachteten auch sie. Und so litt ich am Lachen der Blauen und der Verachtung der Schwarzen. Gott war tot und Sven mit ihm. Meine rosafarbene Alice-Welt: ein Trümmerhaufen. „Jetzt wach mal auf, Sven, und werde erwachsen. Das erwachsene Leben ist nun mal so. Blau wie die Realisten oder Schwarz wie die Existenzialisten. Entscheide dich.“

Zerbrochen: Die Brille in Rosa

Die rosarote Brille war zerbrochen. Die Jahre zogen ins Land. Meine auslachenden KommilitionInnen gingen und machten Karriere. Die großen Krisen für die Gesellschaft kamen. Mein wundes Fleisch blieb und mit ihm der Schmerz. Selbstgewähltes Opferland zwischen Schwarz und Blau.

Irgendwann kam Corona. Und es wurde Samstag. Meine Kinder wollten wissen, warum die erwachsene Welt in Deutschland so häufig Schwarz und weiß sei, manchmal grau.  Vielleicht meinten sie auch nur meine Welt. Auf der Suche nach einer Antwort streifte ich durch die Straßen. Am Zeitungskiosk bleib ich stehen. Zwischen Boulevard in Bold und verzweifelter Serifenseriösität ein Leuchten in Lachs. Italiens Welt des Sportes (La Gazetta dello Sport) und Englands Kosmos angelsächsischer Liberalität (Financial Times) strahlten um die Wette mit dem veganen Himbeer-Slushes am Kiosktresen.

Neuer Frühling, neues Erwachen, neues Rosa

Ich kaufte beide und trug sie nach Hause wie einen wiedergefundenen Schatz. Auf unserem Küchentisch konnten sie sich ausbreiten und ihre ganze Erhabenheit ausspielen. Weinende Männer neben Goldregentänze, Pandemiekurven und Goldmarkteinschätzungen. Reisegschichten bis zum schmelzenden Polarende der Welt, Nachhaltigkeitsketten von Smartphonegadgets und frivole Literaturwiederentdeckungen.

Jetzt wusste ich: Dieses Rosa, für das ich von den gleichförmigen Karrieristen verlacht und von den intellektuellen Himmelsstürmern verachtet wurde, das war keine Brille. Dieses Rosa, das ist eine Haltung. Wie das Papier der beiden Tageszeitungen bietet es Platz für das Leben, wie es ist. In Fülle. In seinen emotionalen und intellektuellen Höhen und Tiefen. Es bewertet nicht, es unterhält und lässt leben. Liebt das Gegensätzliche in gelebter Synchronizität und gegenseitiger Verdichtung. Es liebt den Schnörkel zu viel und lässt zugleich das Einfach wirken.

Dieses Rosa. Es ist das Fleisch meiner Welt. Es bettet Vielfalt ein und feiert. Integriert. Gibt Sinn.

Und in Form der Tageszeitungen heilte es. Rückwirkend. Der Tag, an dem ich die rosafarbenen Welten des Sportes und des Liberalismus nach Hause trug, erkannte ich, dass der Kampf gegen das Rosa ein Kampf der anderen gewesen ist.  Ich selbst war immer Rosa und konnte die Welt in Blau dadurch zum Strahlen bringen.

Ein Wandel zart wie ein Kuss

Dieser Moment. Kein Wandel mit dem Vorschlaghammer. Zart wir ein Kuss. 20 Jahre hat sie gedauert diese Reise aus der Unbewusstheit in die Bewusstheit. Und die Entscheidung. Schluss mit dem Zweifel und dem Krieg gegen sich selbst.

Als ich die letzte Seite umgeblättert hatte, schloß ich die Augen und sog ich nochmal tief die Vetiviereste der Verkäuferin ein. Voll Dankbarkeit legte ich die ausgelesene Zeitung zum Altpapier.

Morgen, soviel steht fest, lässt sich die Welt erneut entblättern. Mit anderen Augen. In Rosa.

Und: Ich liebe es.