NACHGEFRAGT
Wibke Scharpenberg über die Sehnsucht nach dem Kick in Zeiten von Corona
Wibke Scharpenberg ist systemischer Coach und Paarmediatorin. theo- Redakteur Sven Schlebes hat die Wahl-Friedrichshainerin getroffen, um der Suche nach Neuem in unsicheren Zeiten von Corona eine charmante, aber bestimmte Stimme zu geben: Lasst los, was nicht mehr Eures ist. Nehmt an, was leidenschaftlich pocht. Und habt Lust auf das Andere. Eine neue Welt.
Liebe Wibke. Ein Treffen in diesen Zeiten – verboten, aber spannend. Vielleicht sogar notwendig?„Kontaktlos“ ist das Wort der Stunde, „“Anfassen verboten“ sein zentrales Gebot. Das Gegenüber,das Andere ist vor allem Eines: Verdächtig. Erstickt der Mehltau des „Social Distancing“ die Lust auf Leben?
Hallo Sven. Schön dich zu sehen. Ersticken? Ganz im Gegenteil. Uns wird gerade erst richtig bewusst,wie wertvoll der bisher selbstverständliche Umgang miteinander ist! Nähe war immer Teil unseres Alltags.
Auf jeden Fall. Natürliche Verbundenheit.
Wir sind uns auf einmal sehr bewusst, dass wir Verbindung, Nähe, Austausch, Freiheit und Spontanität für ein ausgeglichenes Leben und unsere Gesellschaftsform brauchen.
Der Mensch als Triebwesen.
Ich würde sagen: Wir Menschen sind Verbindungswesen. Dieses Verlangen nach Nähe, Austausch und Freiheit ist die Lust auf das Leben!Ein persönliches Beispiel: Auf Grund der Pandemie mussten wir unsere Hochzeit, geplant als großes Fest der Liebe, absagen. Mit Abstand zu all den wunderbaren Menschen in unserem Leben heiraten? No way! Jetzt planen wir eine „After-Corona-Wedding“ nach dem Motto: doppelt so laut, doppelt so eng!
Liebe: eine gute Basis in Zeiten von Corona
Schöne Vorstellung: Doppelt so eng. Du arbeitest aktuell häufig mit Paaren zusammen, denen dasMiteinander vielleicht eher zu viel geworden ist. Liebe in Zeiten von Corona. Geht das überhaupt?
Sicher: Liebe ist genau die Kraft, die uns durch Krisen tragen kann! Aber Liebe in Corona-Zeiten, dasbedeutet: Noch mehr Rücksicht, Verständnis und Flexibilität. Natürlich braucht es diese Anteile ineiner Partnerschaft zu jeder Zeit, die aktuelle Situation fordert von uns jedoch mehr Achtsamkeit. Die Paare, die ich gerade begleiten darf, stehen tatsächlich vor neuen großen Herausforderungen. Die eingespielten Abläufe in der Partnerschaft und Familie werden durch neue Tagesroutinen, Aufgaben und existenzielle Fragen aufgebrochen. Die Fundamente sind erschüttert. In diesem unerwarteten Umbruch liegt jedoch die Chance, sich neu zu finden.
Nichts ist mehr so, wie es war.
Richtig: Eine Partnerschaft kann hier ein Anker sein. Was kann helfen, wenn der Lagerkoller an die Tür klopft und das „doppelt so eng“ zu viel wird? Miteinander sprechen! Es klingt so einfach und naheliegend und doch beobachte ich immer wieder: Steigt der Stress, sinkt der Austausch. Vor allem der Wertschätzende.
Und was tun?
Nehmt euch Zeit: Für euch als Paar und für euch allein! Diese Art Selbst- und Paarfürsorge lässt jedenauftanken und schenkt Freude auf den anderen. Wie immer gilt: Eine gesunde Paarbeziehung hat eine gute Balance zwischen Ein-, Zwei- und Mehrsamkeit.
Eigentlich wissen wir das ja alles. Nur das Umsetzen fällt uns schwer. Weißt du, was ich letztensgedacht habe? Das mit dem ständigen Aushandeln in einer Partnerschaft, das ermüdet mich total. Für mich ist das manchmal zu viel Kopf, zu viel Berechnung. Die verrückte Liebe – das wareinmal: Das Leben ist so furchtbar ernst – mit und ohne Corona.
Ach komm, Sven! Das klingt jetzt aber pessimistisch. Was verstehst du denn unter „verrückter Liebe“? Meinst du das Ausleben von Trieben und Impulsen? Mehr Abenteuer und Abwechslung? Brauchen wir alle ein bisschen mehr KitKat Club? Im Ernst, ich bin ja bei dir. Die Lebendigkeit und Leidenschaft fällt dem Alltag zum Opfer. Ich bin dafür, immer eine ordentliche Portion Impulse von Außen einzulassen. Wir müssen Entdecker bleiben! Und der Freiheit Raum zu geben. Vielleicht braucht es für verrückte Liebe eine gewisse Ungebundenheit?
Das Aushandeln – Elixier oder Krafträuber
Glaube ich nicht. Aber vielleicht mehr Küssen und weniger Streiten?
Darf ich das Wort Streit mal konstruktiv auslegen als sich miteinander auseinander zu setzen? Darin liegt eine wirkliche Kraft zur Erneuerung! Es ist die Chance zu verstehen, was den anderen bewegt und sich dem intensiv zu widmen! In der Mediation ist diese Vertiefungsphase häufig der Wendepunkt in einem Konflikt. Wenn man dem Anderen emphatisch begegnet und nicht nur im Ego schwingt, ist am Ende auch das Küssen viel schöner.
Nochmal zu deinem ermüdenden Aushandeln: Beziehungen der Gegenwart erfordern mehr Austausch, weil nur noch wenig selbstverständlich ist. Und in dieser nicht vorhandenen Selbstverständlichkeit liegt doch das Potenzial! Wir sind nicht mehr so stark an Traditionen und Rollenbilder gebunden wie beispielsweise noch unsere Elterngeneration. Zum Glück können wir heute über Rollen, Ansichten und Zuteilungen verhandeln! Aushandeln ist für mich ein Zeichen für Gleichberechtigung und Partnerschaft auf Augenhöhe.
Ja, du hast ja Recht. Verhandeln wir weiter. Mir fehlt halt manchmal das Irrationale, die Würze. Das Verführt-Werden. Es befreit von mir selbst. Und gerade jetzt – Corona….
[Lacht] Ahhh…. Verführung kann sehr reizvoll sein! Sie birgt Lust und Abenteuer. Es bleibt etwas im Unklaren und damit spannend …. Ich gebe die Verantwortung der Führung ab. Ist es das, was du suchst?
Vielleicht. Der romantische, kleine Junge, der durch die Wunderwelt stolpert…
Was hindert dich? Lass dich doch von der Welt verführen, die direkt vor deiner inneren Haustür wartet! Hast du der Wunderwelt da draußen schon bewusst die Tür geöffnet? Oder sitzt du drinnen mitzugezogenen Vorhängen und verharrst im „hätte, würde, könnte…“? Was gibt es zu verlieren?
Die Angst vor dem falschen Pfad
Vielleicht sowas wie den „rechten Pfad“? Wir Christen haben da ja so unsere Erfahrungen mit dem Teufel und seinen Verführungskünsten.
Ach, diese Unterteilung der Welt in gut und böse ist eine Deutungsgeschichte, mit der ich wirklichnichts anfangen kann. Himmel oder Hölle. Echt jetzt? Ich habe ein totales Problem mit der Fehler- und Strafkultur in unserer Gesellschaft, die auf diesen Gedanken gewachsen ist. Und dich davon abhält, deine Wunderwelt zu entdecken? Bereits als Kind konnte ich beobachten, dass die Strategie der Bestrafung zu Angst und Leid führt undnicht zur Erkenntnis. Aufgewachsen bin ich in einer alternativen Kommune in einem katholischen, sehr konservativen Dorf. Die Kommune war der bunte Hund, der lustigerweise in das alte Nonnenhausder Kirche einzog. Wir integrierten uns wunderbar durch Freunde, Sportvereine, den Chor usw. Aber eines unterschied mich und die anderen Kinder aus der Kommune deutlich von den Dorfkindern, die in x-ter Generation im Dorf lebten: Wir gingen Sonntags nicht in die Kirche. Und schon gar nicht zur Beichte. Meine enge Freundin in diesen Kindertagen musste sehr oft zur Beichte. Weil sie Süßigkeiten gegessen hatte (zu denen ich sie „verführt“ hatte) oder weil sie frech war (während meine Eltern mir beibrachten, meine Meinung zu äußern). All diese Regeln und Verbote führten selbst durch die Beichte – oh Wunder! – nicht zu einem ausgeglichenen kleinen Mädchen, das sich selbst wert schätzte. Sondern zu Angst, Vermeidung und dem Gefühl „falsch“ zu sein. Ein wundervolles kleines Wesen wurde mitHilfe der Glaubenskultur zu einem Mangelwesen gemacht, dass sich selbst immer weniger zutraute.Es beschreibt für mich eines der größten Probleme unserer Gesellschaft: mangelnder Selbstwert und Vertrauen. Hätte jeder Mensch mehr davon, wäre diese Welt ein friedlicherer Ort.
Ja, das war nicht immer das Wahre mit der Religion. Aber Vertrauen – ins Leben und zu sich. Das ist ein schöner Neuanfang. Für uns als Menschen. Vielleicht ja auch als Christen. Unseren Glauben neu zu entdecken. Ich glaube, er war schon immer so gemeint. Liebend. Befreiend. Nicht zerstörend und einengend. Wie beginnen wir denn nun mit der Reise?
Deine Reise in die Welt der Wunder hat bereits begonnen, als du gezeugt wurdest. Die Frage könnte sein: Was möchte ich auf dieser Reise entdecken, wohin soll sie führen? Dafür ist Coaching wunderbar. Sich neuen Möglichkeiten bewusst zu öffnen ist der erste Schritt. Wechsel vom Überleben-Modus ( „Ich bin das Opfer meiner Umstände“) in den Erleben-Modus (Selbstwirksamkeit). Der Hauptpreis: Dein selbstbestimmtes Leben.
Lass sie los, die Bewertung (mit und ohne Corona)
Wie schaffen wir es denn, mit negativen Erfahrungen so umzugehen, dass wir uns immer wieder mit Leidenschaft unserer Reise widmen (mit und ohne Corona)?
Indem du Bewertungssysteme loslässt, um es so einfach auszudrücken wie es nicht ist (lacht). Wir wachsen auf mit Deutungen „richtig/falsch“, „gut/schlecht“ – das Einordnen verringert vermeintlich die Komplexität des Lebens. Wie wäre es mit einem neuen Gedanken? Eine Erfahrung ist einfach nur eine Erfahrung. All deine Erfahrungen haben dich genau jetzt hier hin geführt. Sie machen dich zu der Person, die du bist und noch werden wirst. Um als negativ gespeicherte Erfahrungen aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten hilft die Frage: Wofür war das gut? Es geht nicht darum, Taten zu rechtfertigen oder zu entschuldigen. Es geht einzig allein darum zu sehen: Diese Erfahrungen haben mich hierher gebracht und ich bin noch da. Ich habe also die Kraft gehabt, mit all dem was war, umzugehen.Lassen wir die Bewertungen los, weicht die Schwere und schafft Raum für Leichtigkeit. Eine Erfahrung ohne Bewertung bildet das weiße Blatt, auf dem alles Weitere entstehen kann.
Glaubst du an uns Menschen? Auch in Zeiten von Corona?
Und ob: Mich inspirieren Menschen sehr! All‘ diese spannenden Individuen, Denkweisen und Perspektiven, Geschichten und Ideen! Mich begeistern Menschen, die leidenschaftlich sind und ihren Blick auf Möglichkeiten richten. Die ihren ganz eigenen Weg gehen und damit Anderen wieder eine Inspirationsquelle sind. Als Lebzeit-Neugierige sind diese Inspirationen die „Lustmacher“ auf das Leben!
Überzeugt. Verführt. Gekauft. Wibke: Das war ein tolles Gespräch: Ich danke dir sehr.
Und ich danke dir! Auf mehr. Auf bald.
Info:
Wibke Scharpenberg
www.der-redewert.com
Der Text ist abgedruckt in:
theo. Das unabhängige katholische Magazin, 03/2020, S. 14 – 16.
http://www.theo-magazin.de