Dieser Kelch geht nicht an uns vorüber: Ein Plädoyer für eine neue Ehrlichkeit
Ganz ehrlich: Bis hierhin und nicht weiter so. theo-Autor Sven Schlebes fordert eine neue Ehrlichkeit in sehr unruhigen Zeiten.
Leise fällt das große Schultor ins Schloß. Kein Krachen. Ein sanftes Klicken. „Das war’s“, stöhnt ein Vater. Wir stehen im Kreis. Unsere Kinder gehen noch einen Tag zur Schule. Dann greift das Schließgebot des Bistums. Corona-Time. Verdachtsfälle wurden zur Gewissheit.
Der Kontrast könnte nicht größer sein. Die Sonne scheint heute besonders schön. Eigentlich würde man gemeinsam zum großen Marktplatz schlendern und ein Käffchen trinken, bevor jeder seiner Wege ginge. Ein Wochenende steht vor der Tür. Frühlingsgefühle.
Doch etwas Unsichtbares hat unsere Leichtigkeit getötet. Wir alle schwanken zwischen Zweck-Optimismus, abwehrender Protesthaltung und aufglimmender Panik: „Schnell nochmal in den Discounter, um das neue Klopapier zu erwischen.“
„Ich habe es doch schon immer gesagt: Das ist die Strafe für dieses ganze Globalisierungszeug“, zischt einer aus der Runde uns Auseinandergehenden hinterher. Niemand widerspricht. Nach den Dauer-Hackerangriffen auf unsere schönen Computersysteme, den nicht abebbenden Wellen flüchtender Menschen zu Wasser und Land, dem Thüringen-Debakel, dem Klimawahnsinn, den Hass-Anschlägen, den Jahren der Finanzturbulenzen und dem Dauerabgesang auf die institutionell-kulturell verfasste Identität unserer Gemeinschaft trifft das Virending einen Nerv. Ermattet senkt jeder den Kopf und winkt. Kein Blick zurück im Zorn. Kein Streit. Einfach: Tschüss.
Mal ehrlich: Alles geht. Das war einmal.
Nach dem Mauerfall der 90er Jahre und dem „Ende der Geschichte“ verfingen wir uns im Paradoxon-Geflecht des neuen Jahrhunderts: Grenzenlose Freiheit für Menschen, Geld und Waren auf der einen Seite, Mauerbau in den Wüsten dieser Welt auf der anderen. Scheinbar objektive wissenschaftliche Wahrheiten hier, Counteröffentlichkeiten mit Gegenmeinungen auf der anderen. Das Erwachen eines neues europäischen WIRs zwischen Silvesterböllern und Raketen, der Brexit mit Champagnerglasgeklirre in der Winterpause. Und der Deutsche fährt in seinen Januar-Skiurlaub: „Macht, was ihr wollt. Nicht mehr meins. Ich mache das, was ich will und kann. So lange der Gletscher noch leckt. Und der Lillet-Wild-Berry perlt.“
Steckengeblieben im Sumpf: das Wir
Das Wir, der Aufbruch in eine neue Zeit: Steckengeblieben im Sumpf des Übergangs in eine neue Zeit. Dass es nicht einfach sein würde, dieser Umbau von alten Systemen mit ihren Hierarchien, kulturellen Selbstverständnissen und vor allem den Menschen, die ganz in borgscher Manier (Star Trek) verwoben sind mit dem, was sie erschaffen haben, wofür sie lebten und was sie ernährte: Keine Frage. Das wussten wir. Wir wissen, dass Menschen unterschiedlicher Generationen die Welt unterschiedlich wahrnehmen, Menschen aus anderen sozialen Schichten und kulturellen Welten einen eigenen Wirklichkeitszugang besitzen. Wir sind alle Individuen. Das wissen alle. Nicht nur Brian (Life of Brian). Jeder erzählt seine Geschichte, und sie legen sich übereinander wie Gesteinsschichten. Und alle haben ihre eigenen (Ab)-Gründe (frei nach Julie Zeh – Unterleuten).
Wir feiern zusammen in Stadien, durchströmen dieselben Straßen, ordern in denselben Amazon-Stores. Wir glauben, wir sind frei, wir sind eins. Und dabei macht jeder seins. Und das nicht nur freitags ab 14 Uhr. Das große Bild ist zerschossen. Die Verwalter des Ehemaligen wie Kirchen und Parteien sind noch sichtbar, aber die Macht des eruptiven Nichts zerfrisst sie von Innen und Außen.
Wir mögen zusammen am Tisch sitzen, aber wir sprechen schon lange nicht mehr dieselbe Sprache. Falls wir das überhaupt jemals getan haben. „Wir schaffen das.“ Ein verhalltes Versprechen. Jetzt ist Einsamkeit. Muskel- und Nervenschwäche. Und doch erfolgt reflexhaft der Ruf nach der Hilfe von dem, was größer ist als wir: Der Staat mit seinen Steuern. Dem Wissenschaftssystem mit seinen Gewissheiten und Impferfolgen. Der Natur an einsamen Orten als gefühlter Rückzugs- und Heilsort. Obwohl genau hier das Monstervirus seinen Ursprung hatte. Tief im Wald.
Alles ist verdächtig. Nicht gegeben.
Alles ist verdächtig geworden: Natur. Mensch. Kultur. Wirtschaft. Technik. Und zu alledem kommt das Schweigen Gottes mit seinem missbrauchenden und strauchelnden System. Tot. Wirkungs- und machtlos. Wir sind das Kreuz. Haben ihn selbst gekreuzigt.
Was kommt jetzt: Die perfekte Welle? Wieder und wieder?
„Es geht immer weiter“, sagte meine Oma. Die hat den großen Weltkrieg mitgemacht. Ihre Kinder an Krankheiten sterben sehen. Naturkatastrophen, Scheidungen, die Kuba-Krise, den deutschen Herbst. Dann starb sie. Es geht immer weiter. Aber wie gelingt der Neuanfang?
Batman-Greta hat mittlerweile mit der 19jährigen Naomi Seibt ihren Joker-Gegenpart. Wer nun die Fratze trägt, entscheidet das Weltbild der jeweiligen Fanbase. „Das Ende des Gegeneinanders und der Beginn besserer Tage“ beschwören gerne die Überlebenden des Kettensägenmassakers und wischen sich noch schnell ihr eigenen blutigen Hände am Rockzipfel des Anderen ab. Mitgemacht. Durchgemacht. Überlebt. Saulus-Paulus-Story. Siegergeschichte: „Hier stehe ich. Ihr könnt nicht ohne mich. Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern. Ich bin der neue Held.“
Wir Deutschen lieben die Systemevolution. Ganz im Gegensatz zu unseren französischen Nachbarn, in denen der jakobinische Geist das Alte und mit ihm alle Träger hinwegfegte, um dem Neuen Platz zu machen. Ich weiß jetzt, was die Leute an Gewalt so faszinierend finden, lässt Zeh den Vogelschützer aus Unterleuten blutbeschmiert japsen. „Weil sie funktioniert.“
Das Schultor, das mit einem leisen Klicken ins Schloss fällt, wird irgendwann wieder aufgehen. Es muss. Dafür ist es da. Tore gehen zu. Und auf.
Ein neuer Anfang. Eine neue Ehrlichkeit.
Aber das Aufgehen sollte verbunden sein mit einem wirklichen Neuanfang. Einer neuen Ehrlichkeit. Einer neuen Klarheit. Einem wirklichen, neuen „Wir“. Das gespielte Zusammenarbeiten in Pseudo-Meetings, in denen doch jeder in seine persönliche Teilwirklichkeit abgleitet und niemand auch nur Anstalten macht, wirklich zu verstehen, worüber der andere gerade redet, weil er an sein eigenes Mittagessen denkt, sollte Geschichte sein.
IT-Spezialisten von heute wissen: Es ist nahezu alles da. Wie Code- und Programmschnipsel liegt alles vorbereitet in den systemischen Baumärkten dieser Welt bereit. Wir müssen nur wissen, wo es liegt, losgehen und vor allem einen Plan haben, was wir damit machen wollen.
Wir reden, um nicht zu kommunizieren. Wir treffen uns, um keine Verantwortung zu übernehmen. Wir pflegen unsere Wunden, um unsere eigene Axt hinter dem Rücken zu verstecken.
Nein, das ist nicht die Zeit für große neue rosarote Wörtblasen. Nicht für neue Hurra-Kampagnen. Keine Beschönigungen. Keine intellektuellen, emotionalen, strukturellen und finanziellen Verschonungen: „Das können wir nicht von den anderen verlangen.“ Es ist, was ist. In seiner ganzen Vielfalt. In seiner Schönheit und Hässlichkeit. Und es ist eben nicht, was nicht ist. Lange habe ich nicht verstanden, wenn Menschen von sogenannten „Elefanten im Raum“ gesprochen haben. Worüber reden die da? Jetzt ist ihr Trompeten nicht zu überhören. Ihr Exkrementhaufen nicht zu überriechen.
Wir leben in Zeiten auf Sicht, auf Verdacht.
Ja, wir leben in Zeiten auf Sicht, des ständigen Verdachts, des Übergangs, der Widersprüchlichkeiten, der Überforderung, einer immerwährenden Angst, der Parallelwelten, die Gegensätze, des politischen und kulturellen Kampfes. Nein, es ist kein Frieden auf Erden. Nicht in uns, in unseren Familien, in unserem Weltbild, unserer Gesellschaft. Es ist in Aufruhr.
Das macht Angst. Das ist aber auch viel Energie. Sie zu reiten, Welle für Welle. Das benötigt eine gandenlose Ehrlichkeit. Nicht aus Angst vor dem Chef einfach AU melden. Sagen, wo die Grenzen sind. Und wo Möglichkeiten. Eine große Offenheit. Vincent kriegt keinen hoch, wenn er an Frauen denkt. Ja und? Keine Angst davor, Ungeheuerlichkeiten auszusprechen. Anzupacken. Den Exkrementhaufen umzuwandeln in Dünger für etwas Neues.
Schuldfragen helfen nicht weiter. Woher wir kommen, ist wirkungslos. Entscheidend ist, in welche Richtung wir schauen. Welche Zukunft wir gewinnen wollen. Im Jetzt. In kleinen Schritten. „A strong back. A soft front. A wild heart”: Was über die letzten Jahrzehnte in allen Entwicklungsseminaren dieser Welt hoch- und runter gebetet worden ist, wird jetzt eingefordert. Aus dem Wort muss jetzt Fleisch werden. Sonst ist es wertlos wie fahles Salz und wird fortgeworfen.
Zeig mir wer du bist. Ich zeige dir, wer ich bin. Und dann schauen wir, ob wir eine Basis bauen können, die realistisch trägt.
Jesus. Ist Mensch geworden.
Gott weiß, warum.
Aber er ist es total geworden. Mit blutendem Kopf und Herzen. In aller Offenheit.
Nicht ein bisschen. Aus politischem Kalkül.
Dieser Kelch geht nicht an uns vorüber.
Wir leeren ihn.
Wir sterben an ihm
Und wir werden neu.
Das ist das Versprechen.
Ganz offen. Ganz ehrlich.
Dieser Text ist abgedruckt in: theo. Das unabhängige katholische Magazin. 02/2020, S. 36 – 38.
http://www.theo-magazin.de