Der verletzte Mann
Der Mann, so scheint es, gleicht oft einem Ritter in strahlender Rüstung mit einem faulenden Körper.
Der Schmerz kommt in der Nacht. Wenn es ruhig ist und die rote Leuchte des Brandmelders ein Lebenszeichen von sich gibt. Dann schmerzen auch dem verwundeten Mann die Gelenke, ein Stechen im Burstkorb, das Piepen im Ohr: Strafzinsen auf dem Kontoauszug? Kennt der E-Mail-Spam-Erpresser vielleicht wirklich meine Passwörter? Spürt sie etwas, wenn er nicht mehr richtig hart wird? Warum tuscheln die Arzthelferinnen? Das neue Projekt funktioniert – auch ohne mich. Das Vergessen. Was gestern positiv, scheint heute negativ. Alles anders.
In Momenten wie diesen endet die Dunkelheit nie. Gewiss ist nichts. Der Alb und seine Dämonenschwestern berauschen sich am Geruch der Angst und spüren die eitrige Nacktheit der Existenz: Menschenfleisch. Auch bei den coolsten von uns. Darth Vaders Röcheln unter seiner abgenommenen Meister-Maske. Der Körper zerschunden, verwelkt, wässrig entzündet am Übergang zu den Technikimplantaten. Das männliche Ich – ein stinkendes Flickwerk. Es ist allein. Noch einsamer als bei Tageslicht. Die Klarheit – verschwunden. Die Sicherheit – zerflossen. Der Schutzpanzer: Abgelegt im Bad. Offen. Verletzlich. Die Frau neben dir. Eine Judith mit Schwert, bereit zur Enthauptung oder dem Hagen von nebenan die Sperreintrittsstelle zu verraten?
Männer: Besser vorne weg.
Männer, so heißt es seit jeher in den Partnerratgeber-Kolumnen von Frauenzeitschriften, seien anders. Liebten anders. Lebten anders. Litten anders. Totaler und zugleich oberflächlicher. Der Männerschnupfen: eine Legende. Der abwesende Mann: Thema abendfüllender Vorträge. Sein Zorn, seine Stille, seine Schlichtheit, seine Sexualgesteuertheit: Allgemeinwissen. Die Toxizität seiner Männlichkeit: Übel unserer gesamten Kultur und des planetaren Gesamtzustandes. Hatte das Verderben früher zwei Brüste, baumeln dem Grauen heute zwei Hoden zwischen den Beinen. Vereinfacht gesprochen in komplexen Zeiten.
Das Ding mit dem Wettkampf, das wird uns Männern nachgesagt. Jäger und Sammler. Alphatiere. Das Gerangel um den Stärksten im Rudel. Das Ansagen. Das ständige Kräftemessen. Ein Leben mit Gewinnen und Verlieren. Macht haben und Macht demonstrieren, um andere Männer auf ihre Plätze zu verweisen und Frauen zu imponieren. Geld verdienen. Brilliant sein. Besser sein. Vorne weg. Der Mann als Opfer seiner naturgegebenen Instinkte und jahrtausendealter Evolution. So erzählt es die Wissenschaft.
Hart und zart: So soll er sein, der Mann
Über den Ehrcharakter von sichtbaren Verletzungen wie Narben, Deformationen oder Verstümmelungen entscheidet der Ausgang des Wettstreites. War der Löwe nachher tot, erzählt die Narbe vom Heldenkampf und der Schmiss vom Mut im Waffengang. Alles andere sind Opfer. Einmal getreten. Immer getreten. Ungeachtet. Ungeehrt. Von Mann, Frau und Kind. Selbstverständlich waren wir Männer immer verletzbar. Aber eben, wie so vieles in der dichotomen Mann-Frau-Erzählung, wahnsinnig überhöht. Hier der wagemutige Weltenlenker und Schmerzensüberwinder. Auf der anderen Seite die fast jungfräuliche Seele im Inneren, die sich nach Verständnis sehnt, nach dem Austausch mit Gleichgesinnten und dem Zerfließen in romantisch-idealistischer Weltanschauung. Der SS-KZ-Aufseher mit Mozart-Etüden. Härter als Granit im Körper und Geiste, zarter als eine Rosenblüte in der Seele. So sieht es ein altes, aserbaidschanisches Sprichwort.
Seit Jahrzehnten wird er gesucht, der neue Mann, der aufmacht und zulässt. Nähe sucht. Zeigt, was ist und da ist. Die Verletzbarkeit, eines der letzten großen Geheimnisse des Mannes, ist fast so etwas wie der Gral unserer Identität. Auch er – nur ein Mensch. Fehlbar. Das fürchten wir Männer. Das Durchleuchtet-werden. Und wenn ich ehrlich bin: Ich kenne keine Frau, die das wirklich aushält. Den offenen und „verletzlichen“ Mann. Denn wenn sie sich selbst schon kaum verstehen und aushalten können. Dann wollen sie nicht noch jemanden an ihrer Seite, der genauso bepflastert durchs Leben geht. Dann lieber den verwundeten Schweiger als den heilenden Quatscher.
Rühr‘ mich an und fass‘ mir in die Wunden
„Pain body“ nennt der Beststellerautor Eckhart Tolle das emotional-kognitive verletzte Gewebe unseres Menschen-Ichs zwischen diesen beiden Poolen, ein quasi zweiter Körper, der neben unserer biologischen Hülle unser Selbst-Bewusstsein einfasst und in Beziehung setzt zu dem, was uns umgibt: Menschen, Räume, Situationen. Wie der biologische Körper wächst auch dieser Körper aus Emotionen und Begrifflichkeiten, er bekommt Muskeln, nimmt die Wirklichkeit wahr. Er prägt die Umwelt und wird geprägt. Empfindet Freude – und speichert gemäß Tolle vor allem Leid. Der Schmerzkörper (Pain Body) sei die Ansammlung allen Leidens, das uns persönlich oder der uns zugehörigen Gruppe in diesem oder in anderen Leben wiederfahren sei. Quasi der Christuskörper unserer Seele am Kreuz. Wehrlos. Ohnmächtig. Gebrochen. Die zerstörte Rosenblüte im Granitkelch.
Wer einem Menschen mit seinem Pain body begegnet, berührt entweder seine Rüstung. Und lebt mit der Distanz. Oder berührt die angesammelten Wunden. Und wundert sich über die Reaktionen des Gegenübers: Wut. Sprachlosigkeit. Rückzug. Aggression. Der Mann, so scheint es, gleicht oft einem Ritter in strahlender Rüstung mit einem faulenden Körper. Gesund und nackt wird er dagegen nur selten gesehen.
Body of pleasure: Eine weibliche Reise
Es ist bemerkenswert, dass die Frauen in den letzten Jahrzehnten vor allem den „Body of pleasure“ (Freudenkörper) in den Fokus der Wiederbelebung rückten und beim Mann erst einmal der Schmerz diskursiv zum Vorschein kam: Der zitternde Helmut Kohl, der röchelnde Darth Vader, der sich selbst mordende Robert Enke. Die Befreiung der Frau eine Entdeckungsreise zur Lust, der Mann auf dem Weg zum erlaubten Frust. Ich habe lange gebraucht um zu verstehen, dass es notwendig war, die Schutzmauern fallen zu lassen, um die Eitrigkeit heilen zu lassen. Und siehe da: Es gibt viele wunderschöne „Männerwesenhaftigkeiten“, die sich dem Leben stellen und es bereichern. Ohne überhöht zu leiden oder alles wegzulächeln. Es gibt sie, die sich selbst bewussten Männer, die sich selbst annehmen und ihre Kräfte anstatt in neue Rüstungen und Distanzen lieber in den Liebesakt und die Kreation von etwas Neuem stecken.
Captain Future. Mann, Papa: Jetzt!
Zu seinem sechsten Geburtstag hat mein Sohn ein Roboter-Stickerbuch geschenkt bekommen. Als wir uns abends durch die verschiedenen Modelle arbeiteten, zeigte er mit Entschlossenheit auf den größten von Ihnen und meinte: “Der da will ich sein. Der kann von nah und fern schießen, hat eine meterdicke Schutzhaut und kann auch noch fliegen.“ „Aber du bist langsam“, gab ich zu bedenken. „Kein Problem. Vorher habe ich dich weggeschossen.“ Dann stand er auf vom Tisch und rannte zu meiner Frau auf dem Sofa: „Kannst du mir auf der Toilette helfen?“
Da war meine Frau aber schon eingeschlafen. Vor Erschöpfung. Und mit einem Lächeln ließ sich mein Sohn von mir den Hintern abputzen.
„Weißt du was, Papa? Eigentlich brauchen wir den Raketenwerfen nicht, oder? Bauen wir ihn lieber zu echten Raketen um und fliegen in den Weltraum. Und du: Du sitzt neben mir. Das wäre schön. Du weißt doch: Captain Future.“
Der Text ist zum ersten mal erschienen in: theo. Das unabhängige katholische Magazin, 01/2020, S. 32 – 34.
http://www.theo-magazin.de