NACHGEFRAGT
Apnoe-Taucherin Anna von Boetticher
Anna von Boetticher ist Apnoe-Taucherin. Mit nur einem Atemzug taucht sie bis zu 130 Meter in die Tiefe – und wieder zurück. Damit gehört sie zur Weltspitze in dieser Extremsportart. „Sie ist verrückt“, sagen die einen und winken ab. „Sie ist etwas ganz Besonderes“, sagen die anderen und buchen sie als Trainerin für Menschen, die in Extremsituationen leben und arbeiten und für das Leben anderer verantwortlich sind: Tauchlehrer, Marinetaucher, Kampfschwimmer, Polizeitaucher. Für theo hat Sven Schlebes mit der Ausnahmeathletin über den Sog der Tiefe gesprochen, die Kunst absoluter Hingabe und totaler Konzentration, die Lust an der Leistung und dem Besonderen und den schmerzlichen Mangel an guten Ausbilder-Ausbildungen.
Liebe Frau von Boetticher. Sie sind APNOE-Taucherin: Als Freitaucherin suchen Sie die Tiefe ohne Geräte und erreichen unglaubliche Tiefen. Erlauben Sie mir die vielleicht banale Frage: Wie kommt man zu so einer Sportart?
Mein Weg war einfach eine immer fortgehende Weiterentwicklung meiner Faszination für die Unterwasserwelt. Ich denke, ich hatte schon immer große Neugierde auf die unbekannten Weiten des Universums da draußen – als Kind wollte ich unbedingt Astronaut werden. Es war einfacher, die Tiefe der Meere zu erkunden als das Weltall! Ich wurde erst ganz normaler Flaschen-Taucher, später Tauchlehrer und irgendwann technischer Taucher – das bedeutet, man taucht mit vielen Tanks und Helium-Luft Gemischen bis in große Tiefen. Von dort kann man nicht einfach an die Oberfläche zurück, denn man muß Dekompressionsstufen einhalten. Das bedeutet, dass man jedes Problem unter Wasser lösen muss. Eine riskante Art zu tauchen, die vorsichtiges Risikomanagement braucht. Ich wollte mich selbst so gut kennen wie möglich und etwas Apnoe Erfahrung als zusätzliche Sicherheit – nach meinem ersten Kurs war ich sofort so fasziniert, dass ich unbedingt herausfinden wollte, wie tief ich wohl tauchen kann. Nur sechs Monate später holte ich zum ersten Mal Bronze in einer Tiefen-WM und brach die deutschen Tiefen-Rekorde in drei Disziplinen.
In Ihrem Buch „In die Tiefe“ beschreiben Sie unglaublich dicht, wie das Dunkel sie verschluckt. Wie ist das, wenn Sie versinken?
Apnoe Tauchen bedeutet, mit nur dem einen Atemzug in der Lunge unter Wasser zu sein. Wenn ich auf diese Weise in die Tiefe sinke, ist es sich winzig klein fühlen in einem riesigen Ozean, und gleichzeitig die intensive Wahrnehmung ein Teil dieser Welt zu sein. Dieses absolute Loslassen ist nicht einfach und etwas, auf das man sich immer wieder neu konzentrieren muss. Wenn es gelingt, ist es ein unglaubliches Gefühl von Ruhe und verschmelzen mit der Umgebung. Sich dort in der Dunkelheit aufzuhalten ist ein Erlebnis, das eigentlich nicht für uns Menschen vorgesehen ist, schon gar nicht ohne technische Hilfsmittel. Und doch können wir uns mit Körper und Geist an diese Umgebung anpassen – dort erlebt man eine einmalige Stille, in sich selbst wie in der Umgebung. Diese Welt auf so eine Weise wahrnehmen zu können ist wirklich ein Privileg.
Als ich beim meinem letzten DLRG-Rettungskurs 5 Meter tief tauchen sollte, türmte sich über mir das Wasser quasi zu einem Berg auf. Haben Sie keine Angst?
Nein, ich habe beim Tauchen nie Angst, auch nicht in schwierigen Situationen. Das war schon immer so, aber auch die Jahrzehnte von Erfahrung spielen dabei eine Rolle. Das ich keine Angst habe bedeutet nicht, dass ich nicht sehr großen Respekt habe vor den Risiken der Auseinandersetzung mit dem Element Wasser und der Natur. Ich weiß sehr genau, wo meine Limits sind, habe kein Bedürfnis, mein Leben zu riskieren um einen „Kick“ zu erleben und nehme außerdem sehr schnell und genau war, wenn eine Situation plötzlich kritisch wird. Das ist wichtig – und auch, dann handlungsfähig zu bleiben. Angst lähmt. Ich habe auch Angst, aber: Ich hebe sie mir für später auf! Im kritischen Moment selbst konzentriere ich mich auf die Lösung des Problems.
Das ist eine wahnsinnig kostbare Gabe. Ruhig zu bleiben, auch wenn Alles um einen herum aus dem Ruder zu gleiten scheint.
Das ist das Entscheidende. Wenn ich morgens mit den Marinetauchern das tägliche 50-Meter-Bahn-Tauchen zum Aufwärmen mache, dann stelle ich sie vor die Entscheidung: Durchziehen oder in Ruhe an den Rand schwimmen und auftauchen. Dieses Hektisch-Werden, Rumprusten, Sich-Ereifern. Das hat hier nichts zu suchen. Es geht darum, das Heft in der Hand zu halten. Noch nicht mal der Ateminstinkt soll die Männer treiben. Bei mir setzt der Ateminstinkt auch nach 25 Metern ein. Leider. Aber ich schaffe 113 Meter in der Strecke. Ohne Probleme. Ruhig bleiben. Langsam schwimmen. Verantwortung übernehmen – für sich, den Körper, die Gruppe. Und dann auftauchen.
Ihr Wille möchte in die Tiefe. Ihr Körper setzt Grenzen. Was bedeutet Ihr Körper für Sie? Und sind Sie in ihm „Zuhause“?
Ich bin in meinem Körper sehr zuhause, ich glaube, das war ich immer. Er setzt mir oft Grenzen – aber letztendlich bin ich stark und gesund genug, um all die Dinge zu erleben, die mich faszinieren. Meine Grenzen sind eben ein Teil meines Weges, und sie zu akzeptieren und immer wieder Wege zu finden, mit ihnen umzugehen ein Teil der Herausforderung, die ich liebe.
APNOE-Tauchen lernt man nicht in der Schule. Sie haben es von und mit anderen Taucherinnen und -Tauchern gelernt. Was waren das für Menschen und wie würden Sie die Beziehung zu ihnen beschreiben?
Ich hatte großes Glück und bin an Menschen geraten, die frei gegeben haben, was sie wussten. Die wirklich und von ganzem Herzen wollten, dass man Erfolg hat und dass man, noch viel wichtiger, das Apnoetauchen auf gute Weise erlebt. Sie waren ehrlich, direkt, haben mir Sicherheit vermittelt und meine Möglichkeiten aufgezeigt und mich auch mal zurückgehalten, wenn ich zu viel wollte. Sie waren da wenn etwas nicht klappte und in der Lage, diese ganze Sache nicht zu ernst zu nehmen, zu verstehen, dass es ein Privileg ist, dass wir diese Dinge erleben dürfen, aber eben auch nicht gerade das wichtigste auf der Welt. Sie sind bis heute da und werden es hoffentlich lange bleiben.
Selten erreichen Sie beim Tauchen einen festen Grund unter den Füßen. Zu tief ist das Meer. Haben Sie einen Grund? Eine Haltung?
Ich habe einen sehr sicheren Grund – meine Familie und die Art und Weise, in der ich aufgewachsen bin – voller Abenteuer und Aufregung. Meine Großeltern sind im Krieg aus dem Baltikum und Ostpreußen geflohen. Sie hatten alles verloren. Sie mussten neu anfangen. Wie viele Menschen in Deutschland. Mit meinen Eltern haben meine Brüder und ich viel zusammen erlebt. Bildung war wichtig. Und ein Grundvertrauen in das Auf und Ab des Lebens, getragen von Dankbarkeit. Trotz allem. Für Alles. Ich denke, ich weiß recht genau, wer ich bin, und wie ich Dinge angehen möchte. Für mich ist wichtig, mit Offenheit und Neugierde durch das Leben zu gehen und nicht zu vergessen, was wirklich wichtig ist – es ist leicht, das im Trubel von Erfolg oder Misserfolg aus den Augen zu verlieren.
Woraus schöpfen Sie Ihre Kraft und Ihr Vertrauen?
Aus meiner echten Liebe zu dieser Welt und der Fähigkeit, überall Dinge zu sehen die mir Freude machen, auch wenn es nur die Spatzen sind, die in Berlin in einer Pfütze baden. Und in all dem habe ich meine Familie, die genauso denkt und immer da ist – das ist ein großer Schatz, für den ich sehr dankbar bin.
Wenn Sie abtauchen, gehen zwei Sicherheitstaucher mit Ihnen. Sie nennen sie liebevoll „Engel der Tiefe“. In 30 Meter Tiefe warten Sie dann auf Ihre Rückkehr. Das ist die Höhe eines durchschnittlichen Dorfkirchturms. Was ist das für eine Beziehung, die der Tauchende und die Sicherheitsengel miteinander verbinden?
Die Beziehung, die wir zueinander haben ist eine ganz besondere. Man muss sich vorstellen: Man ist mit einem Karabiner an einem Seil gesichert, das nach oben führt und kann nicht verloren gehen. Aber in der Tiefe, weit unten, fern von der Oberfläche, ist man allein. Je nachdem, wo man taucht, sieht man in alle Richtungen nichts als Ozean – nach unten geht es gefühlt ins bodenlose, um einen herum in endlose Weiten. Man ist absolut allein, und doch ist man es nicht – man ist intensiv mit denen verbunden, die einem auf dem letzten Teil des Weges entgegenkommen, die dort warten, um einen zu begleiten. Denen man sich anvertraut, mit seinem Leben. Die unsere Ängste und Schwächen kennen, die da sind, wenn man feiert und da, wenn es schwer war. Die durch das Vibrieren des Seils, an dem unser Karabiner entlang gleitet, fühlen, ob wir auf dem Weg zurück sind. Es eine Beziehung von großem Vertrauen, eine, die ich als ein großes Geschenk empfinde. Fast wie eine Familie – denn die gibt es in vielen Variationen. Zusammenhalt ist das, was zählt.
Glauben Sie eigentlich?
Ich glaube nicht im ganz traditionellen, biblischen Sinne, aber ich erlebe diese Welt intensiv und auch spirituell. Meine Herkunft und auch kulturelle Identität sind evangelisch und das Christentum ist dazu meine Heimat. Ich fühle mich in Kirchen wohl und zu den Gemeinden zugehörig, auch wenn ich selten in der Kirche bin.
Wer sich so der Tiefe hingibt, muss lieben und hoffen können. Können Sie mit den Konzepten „Liebe“ und „Hoffnung“ etwas anfangen?
Ich habe großes Glück – ich werde von vielen Seiten geliebt und wurde es immer. Ebenso habe ich das Glück, in viele Richtungen lieben zu können. Das ist ein Schatz und keine Selbstverständlichkeit. Und wie jeder Mensch hoffe ich auf kleine und große Dinge, das gehört zum Leben! Im Moment hoffe ich, dass ich zur Weltmeisterschaft im September gesund bin und ich hoffe, dass wir für die politischen Turbulenzen auf der ganzen Welt Lösungen finden. Das sage ich auch immer in meinen Ausbildungen. Hardlinern würde ich kein Team anvertrauen. Autorität: Ja. Klarheit: Ja. Sicherheit: Ja. Aber diese Offenheit zu sich selbst, die Hingewandtheit zu den anderen Menschen. Die muss da sein. Wir tragen doch Verantwortung für etwas Kostbares und sind keine Spieler. Miteinander bedeutet immer auch Vielfalt. Und Vielfalt bedeutet auch immer Unterschiede. Nicht jeder kann alles, will alles. Leben und leben lassen. Fordern und Fördern. Aber nicht Hass, Wut, Neid, Stumpfheit und Ausgrenzung.
Ein zentrales Thema, das Viele von uns umtreibt. Erlauben Sie mir eine Frage zum Abschluss. Richtig lernen. Sich selbst richtig kennen lernen. Und richtig lehren. Das zieht sich bei Ihnen wie ein silbriger Faden durch die Dunkelheit. Was können Sie weitergeben? Was ist Ihnen wichtig?
Was ich weitergeben kann, hängt immer ganz davon ab, wen ich vor mir habe und worum es jeweils geht. Sicherheit? Selbstvertrauen? Ruhe? Es ist immer anders. Jeweils den Schlüssel dafür zu finden, ist eine große Herausforderung, die mir viel Freude macht. Und Freude ist sehr oft ein guter Anfang für alles Mögliche. Vor allem für die Tiefe.
Liebe Frau von Boetticher: Vielen Dank für das Interview.

Anna von Boetticher: In die Tiefe.
UllsteinExtra. 2019.
16 EUR
Info:
http://annavonboetticher.com
Der Text ist abgedruckt in:
theo. Das unabhängige katholische Magazin, 2019/04.
http://www.theo-magazin.de