Mit dir will ich nicht Wir sein.
Abgedruckt als Austauschkolumne von theo. Katholisches Magazin, in INFO 3. Magazin..
Sascha Lobo, der wohl bekannteste digitale Philosoph Deutschlands, erntete brandenden Applaus, als er in seiner S.P.O.N-Kolumne virtuell das Ende eines alten „Wir“ ausrief: Angesichts der hasstriefenden Äusserungen von Leserinnen und Lesern zur Migrationsdebatte beendete er seine definitorische Zugehörigkeit als „Deutscher“ mit den Schreibern und beanspruchte für sich damit die Freiheit, mit anderen ein „neues, anderes Wir“ zu bilden (Quelle: http://www.spiegel.de/netzwelt/web/sascha-lobo-ueber-das-deutsche-wir-gefuehl-a-1010852.html) . Auf einer neuen Wertebasis. Dieser Schritt der Loslösung aus einer vorgegebenen Gemeinschaft ist nicht neu. Es ist ein emanzipatorischer Akt und treibt gerade die Entwicklung der Moderne mit voran. Und doch bringt sein „Mit dir will ich nicht wir sein“ ein neues Selbstbewusstsein zum Ausdruck, das vor allem Traditionalisten gerne als Ausgeburt einer Post-68er-Hyperindividualisierung und als Sargnagel einer funktionierenden Gesellschaft skizzieren. Niemand sei mehr bereit, sein Eigenwohl hinten an zu stellen und gemeinsam für ein großes Ganzes zu arbeiten. Weder in Parteien noch in Vereinen oder Kirchen. Es mag stimmen, dass die Selbstoptimierung und der Tunnelblick auf die eigene Entwicklung in unseren Tagen einen ganz besonders hohen Stellenwert bekommen hat. Doch genau das ist das Einzige, was wir Menschen im Zeitalter der Netzwerkgesellschaft zum aktuellen Zeitpunkt machen können: Die Verantwortung für unser Leben und die Geschichte, die wir leben wollen, zu übernehmen und selbst zu sehen, was für uns richtig und stimmig ist und damit dem Christusgebot der „Geisterprüfung“ nachzukommen. Als das Dritte Reich in Schutt und Asche lag, haben unsere Vorfahren den mündigen Staatsbürger (in Uniform) zum Ideal erhoben: stark und selbstbewusst genug, um dem eigenen Gewissen zu folgen und wenn notwendig eben auch „Nein“ zu sagen: zu Kadavergehorsam, zu Macht- und Wertemissbrauch, ganz gleich welcher Art.
Dieses „Nein“ mag trennen. Aber entsteht es aus Bewusstheit, ist es die Voraussetzung für ein neues Ja. Zu neuen Gemeinschaften, zu einer neuen Art des Lebens, zu neuen Experimenten. Noch überwiegt das Gejammer über das Ende alter Wirs. Aber wer genau hinsieht, erkennt, dass inmitten des Abrissstaubs zahlreiche neue Wirs erblühen. Im Mittelpunkt stehen häufig besondere Gebäude oder Institutionen, die strahlen und Menschen Raum geben, sich unter dem Dach des Aussergwöhnlichen zu versammeln. Oder charismatische Menschen, die andere inspirieren und ihnen eine neue Heimat bieten.
Wir Menschen sind relationale Menschen, unsere Ich-Werdung gelingt nur in der Begegnung mit dem Anderen. Wir können gar nicht anders. Das Wir verstanden als ein Leben in Verbundenheit ist kein wirklicher Gegensatz zu uns selbst, sondern unsere eigentliche Heimat. Es ist eine Einladung, uns selbst und den Anderen neu kennen zu lernen, wenn uns bewusst geworden ist, dass einzig die Verbundenheit Realität ist und die Trennung Illusion.
Diese Erkenntnis wird auch weiterhin uns Menschen frei machen zu gehen, wenn äußere Gemeinschaften unter falschen Vorzeichen am Leben gehalten werden. Und sie macht uns frei für ein echtes „Ja“ zu einer starken Gemeinschaft mit eigenständigen Geschwistern und genug Frischluft zum Leben.
Zeit für ein Wir mit dir. Nicht immer. Aber immer öfter.