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Heilig. Heilig. Heilig.

Abgedruckt in: theo. Katholisches Magazin 03/2015.

Für viele Menschen ist Streetart ein Ärgernis und Unkultur. Vor allem für Hausbesitzer und Angehörige des Ordnungsamtes. Der Kunstsektor jedoch liebt diese archaische Kunstform, die angesichts des Geruchs der Illegalität eine ursprüngliche und unverfälschte Kreativität verspricht. Und damit Investoren träumen lässt.

Für die Künstler ist Streetart vor allem eine Möglichkeit, sich den durchgeplanten und oft als anonymisiert empfundenen urbanen Lebensraum zurückzuholen und Freiheit inmitten von kulturell versiegelten und zubetonierten Welten zu leben. Hier werden akkurat am Computer geplante Stadtviertel mit Bildergeschichten gekontert, die von menschlicher Sehnsucht erzählen, dem Unperfekten und dem, was unterhalb der offiziellen Gesellschaftsdiskursebene wabert und auf sein Lebensrecht und seine Wiederentdeckung pocht. So wie die Heiligenbilder der Schweizer Künstlerin MissMe. Die im Ikonenstil gemalten Musikerportraits zieren mittlerweile die Straßen zahlreicher Großstädte überall auf der Welt und verkünden auf ihre eigene Art und Weise von der Unverwüstlichkeit des Metaphysischen.

Theo-Redakteur Sven Schlebes hatte die Gelegenheit, mit der Schöpferin der Michael-Jackson und 2pac-Ikonen über Gott und die Welt zu reden.

Hallo, MissMe. Es war gar nicht so einfach, Sie ausfindig zu machen. Ihre Galeristen meinen, sie halten es nur 3 Monate in einer Stadt aus. Dann packen sie ihre Koffer und ziehen weiter. Was suchen Sie denn so intensiv?
Lachen.
Das, was alle suchen, oder? Meine Bestimmung. Vielleicht auch so etwas wie eine allgemeine Heiterkeit. Auf jeden Fall: Das, was meinem Leben Sinn und Wert verleiht.

Verstanden. Und da, wo ihre Reise begonnen hat, da sind sie nicht fündig geworden?
Nicht wirklich. Geboren bin ich in Genf. Also im alten Europa. Da musste ich irgendwann weg. Jahrelang bin ich rund um die Welt gereist. Lange ausgehalten habe ich es in der Tat nirgendwo. Zur Zeit lebe und arbeite ich in Montreal. Ich mag Kanada.

Bekannt geworden sind Sie durch Ihre Musikerportraits von George Gershwin, Nina Simone, Billie Holiday, die im Iconenstil übergroß an Häuserwänden strahlen. Eine ganz eigene Mischung aus Ikonographie und Popkultur ist da entstanden. Haben Sie in der Popkultur das Heilige vermisst oder glauben Sie, dass das Heilige im täglichen Leben fehlt?
Ich glaube, das Religiöse ist immer noch Teil unserer Alltagskultur. Ob es sichtbar ist und gelebt wird, hängt jedoch von jedem selbst ab. Ich habe mich nicht wirklich an einer katholischen Ikonografie orientiert. Es ist vielmehr die orthodoxe Art, das Heilige zu zeichnen, das mich inspiriert hat. Für mich es ist ein einfacher visueller Code, das Heilige darzustellen.

Das ist der Grund, warum ich den Ikonenstil verwende. Es ist etwas, das wir alle verstehen. Aber die ursprünglich dargestellten Personen und Dinge sind soweit weit weg von unserer Kultur, dass sie für die meisten von uns keine Bedeutung mehr haben.

Dafür aber gibt es in unserer Gesellschaft Menschen und Dinge, die uns genauso inspirieren können wie Menschen, die vor über tausend Jahren gelebt haben und auf eine schreckliche Art und Weise ums Leben gekommen sind. Du musste nicht genauso grausam enden und so weit weg vom normalen Leben sein, um Menschen inspirieren zu können, ein besseres Leben zu führen oder über sich hinauszuwachsen.

In diesem Fall habe ich Musiker gewählt. Denn für mich ist Musik einer der wunderbarsten Faktoren auf der Welt.

Besondere Berühmtheit hat ihr Ghetto Angel im Treppenhaus des Black Rainbow Magazines erlangt.
Ah, ja. Das ist 2pac. Auch so ein Musik-Heiliger. Einer mit seinem eigenen persönlichen und politischen Kampf. Das mag jeder anders sehen. Für mich – und viele andere auch – ist er enorm inspirierend.

Für die Agentur eVe without adam haben Sie 7 „Muses of Eden“ erschaffen. Ein Poetisierungsakt?
Keine Poetisierung. Alles, was ich mache, hat eher etwas mit Freude zu tun. Und dazu gehört gerade auch dieses Musending: Ein Frauenkollektiv von sieben Untergrundamazonen, die jede in ihrem Bereich – Streetwear, Partys usw. – eine gewisse Art von Berühmtheit erlangt hat, auf eine imposant – humorvolle Art dargestellt. Das war einzigartig, neu, und wirklich anregend. 7 kraftvolle Frauen. Echte Musen eben.

Ihr natürlicher Lebensraum ist die Großstadt. Wie fühlt sich so ein Leben als Asphaltbewohner an?
Ich liebe die Stadt. Vor allem die Straßen. Ich liebe sie tief und innig.

Und was für einen Eindruck macht das Leben in diesem urbanen Raum auf Sie?
Wow. Das ist ist eine schwierige Frage. Komplex, würde ich sagen. Es ist wunderschön und schrecklich zugleich. Ein bunter Mix aus Grautönen, Weiß und Schwarz. Aber das Leben in Gänze erfassen kannst du ja eh nicht. Was wir sehen, ist die uns bekannte Welt. Ein Haufen Definitionen. Unsere Definitionen. Wir wissen und wissen letztendlich doch nichts.

Ihr Art, in diesem überwältigen Chaos zu leben, ist die einer Künstlerin, oder wie sie es nennen: einer kunstschaffenden Vandalistin. Was bedeutet das konkret für Sie?
Alles. Aber vor allem bedeutet das, ich selbst zu sein: MissMe.

Ihre diesjährige Soloausstellung „Saint Souls: Beauty through hardship“ in der Fresh Paint Gallery in Montreal war ein großer Erfolg. Besonders beliebt: ihre Merchandise-Kerzen. Wird aus der kuntschaffenden Vandalin MissMe jetzt eine Kunstunternehmerin?
Ach her je. Lacht. Bloß nicht. Das ist einer der Wege, um ein bisschen von dem Geld zurückbekommen, das ich auf der Straße lasse. Alles, was ich tue, sind Geschenke an Stadt. Und die schluckt viel. Also versuche ich, nicht allzu viel zu verlieren. Die Kerzen sind ein kleiner Return. Aber ich bin weit davon weg, eine Kunstunternehmerin zu sein.

Also doch eine echte Künstlerseele. Was glauben Sie, ist denn eigentlich eine Seele?
Gute Frage. Ich weiß es nicht. Ich würde es definieren als das magische, lebendige Ding in mir drin, das mich tiefer empfinden lässt als ich es jemals ausdrücken könnte. Es lässt mich Schmerzen empfinden und erhebt mein ganzes Wesen zugleich empor. Höher, als alles um mich herum. Aber eine Seelendefinition habe ich nicht. So wie die meisten Menschen.

Sie setzen sich sehr für Frauen ein. Was bedeutet es für Sie selbst, eine Frau zu sein?
Oh, ich gehöre damit zur Hälfte der Menschheit. Frausein, das ist etwas wirklich Schönes, Kraftvolles. Gut. Wir können schrecklich sein und hart. Viele von uns sind nicht gerade besonders erfolgreich darin, gute Menschen zu sein. Aber das gilt auch für unser Komplementärwesen, den Mann. Wobei: Den Mann als Stereotyp gibt es ja gar nicht. Genausowenig wie „die Frau“. Jeder hat so seine Geschlechterkonstruktion im Kopf. Und die lebt er dann auch. So wie ich meine lebe.

Zusammen mit anderen Frauen haben Sie „Desert for Breakfast“ ins Leben gerufen. Eine Webplattform, auf Frauen über Körper diskutieren, Beziehungen und Sexualität. Verfolgen Sie damit eine konkrete Botschaft?
Klar haben wir eine Botschaft. Aber eigentlich sind das vielmehr unsere Meinungen als konkrete Botschaften. Meinungen über die Gesellschaft um uns herum, über Frauen als Vorbilder für das Ausleben ihrer eigenen Sexualität, frei von Scham, lustvoll und bewusst genießend. Vor allem aber geht es um den Respekt vor und für uns selbst.

Aber wie gesagt: Das sind weniger Botschaften als Meinungen. Was die Plattformbesucher daraus machen, ist ihre Sache.

Glauben Sie in Gott?
Jetzt wird’s intim. Das ist für mich eine sehr private Frage, die ich nicht beantworten möchte.

Lieben Sie?
Aber natürlich. Absolut. So sehr, dass es schmerzt und weh tut. Nicht auf so eine dunkle und harte Art. Sondern weil es so intensiv ist. Zu lieben, das schüttelt deinen Körper, wirbelt ihn umher, macht ihn schwach und stark zugleich. Liebe ist für mich die ultimative Magie in diesem Leben.

Was für einen Sinn hat das Leben?
Wow. Das weiß ich wirklich nicht. Aber ich habe vor, das Beste zu tun, um Menschlichkeit und Wahrheit leben zu können.

Das sind große Pläne. Sonst noch was?
Grinst.
Ich hoffe, dass ich mich selbst irgendwann wesentlich mehr in meiner Seele befinden werde als jetzt. Wo auch immer das sein mag.

Vielen herzlichen Dank für das Gespräch.

Informationen zu MissMe:
http://www.miss-me-art.com/
https://www.facebook.com/missmeart
http://society6.com

Informationen zur Frühjahrsausstellung „Saints of Soul: Beauty through hardship“ in der Fresh Paint Gallery, Montreal, Kanada:
http://www.freshpaintgallery.ca/

Informationen zur Agentur eVe withou adam und dem Projekt „Muses of Eden“:
http://evewithoutadam.com/

Informationen zur Diskussionsplattform „Desert for breakfast“:
http://www.dessert-for-breakfast.com