Einfach ohne Gott
Es geschah mitten am Tag. Mitten im Tiergarten. Berlin erlebte einen Orkanausläufer. Ein grandioses Schauspiel. Wolkenbänder in Endlosmethamorphose. Manchmal brach die Sonne durch. Hagelklatschen. Schneegeschmeichel.
Mein Sohn schlief. Seit zwei Stunden schon. Freie Zeit. Für mich und die Gedanken. Da sackte der Smartphoneakku weg. Mitten am Tag. Mitten im Tiergarten. Berlin erlebte einen Orkanausläufer.
Die schönsten Bildmotive: Verschenkt. Aus Facebook. Rausgerissen. E-Mail-Abgleich: unterbrochen. Telefonweiterleitung: auf der Mailbox geparkt. Das persönliche Ende der Netzwerkgesellschaft.
Plötzlich. Unerwartet war ich raus aus meinem Leben. Unerreichbar für die Anderen. Unfaehig, sie zu erreichen. Der Universalschlüssel mit Streicheldisplay lag tot in meiner Hand.
Ich setzte mich auf eine Bank. Den Kinderwagen parkte ich neben mir. Mein Sohn schlief immer noch. Zum Glück. Äste knackten. Der Wind rauschte. Ein fantastischer Tag. Schade, dass jede Impression nun nicht mehr geteilt werden konnte. Jedes Sonnenblitzen, jedes Windspiel. Ein gigantisches Schauspiel nur für mich. Für Sekunden. Bruchteile. Nichts konnte ich mehr festhalten. Ich war raus und doch auf einmal drin. Direktkontakt. Das Ende von Homo Faber. Ein Neuanfang.
Erst Tags zuvor hatte ich einen neuen Holbein angefangen: „Ich ging ohne mich zu Gott. Lebensbilder komischer Derwische.“ Gott finden. Das wollte ich, seitdem ich moderner Wissenschaft lauschte und von seinem Tod erfuhr. Dass mich diese Suche so einiges kosten würde, ahnte ich zu spät. Vieles verlor seinen Reiz, seine Wichtigkeit. Gesellige Abende, wichtige Projektjobs, systemische Auszeichnungen. „Einfach ohne“ war lange das Ticket meiner Reise. Leider auch ohne Rast und ohne Ziel. Irgendwann verzweifelte ich an diesem „ohne“. Ich war mitten im Leben, hatte Familie, Aufträge: volle Hände, volle E-Mail-Fächer, massenhaft Fragen. Die Beschäftigung mit dem „einfach ohne“ kontrastierte mit meinem Leben. Gewaltig. Ich lies los und lebte doch in mitten der Dinge weiter und sie wollten erkannt werden. Richtig.
Sich suchen, Gott suchen, Sinn suchen, Geld suchen, Kunden suchen, Liebe suchen: Das war irgendwann zuviel suchen. Ich hatte keine Lust mehr auf die Suche. Auch nicht mehr auf den suchenden Sven. Da fiel mir Holbein in die Hände.
Wie wäre es, einfach ohne mich? Ohne den alten Sven?
Einen Tag später tobt ein Orkan über Berlin. Kurz bevor mein Smartphoneakku den Geist aufgab, hatte ich einen kurzen Chat mit einem befreundeten Beraterkollegen. Er berichtete von einer Tagung in einer Kirche zum Thema „Modernes Leben, Start Ups und Kirchen“. Mit der Kirche stand er auf Kriegsfuss. Er war ein begnadeter Social Entrepeneur. Die Veranstaltung hatte ihm gefallen. Überraschung. Er überlegte sogar, den Kontakt zu den Veranstaltern zu halten. „Kirche ist gar nicht so schlimm. Hat sich viel getan. Vielleicht wäre sie mit weniger Gott noch besser.“
Da brach der Kontakt ab.
Einfach ohne mich. Einfach ohne Gott?
Unter den Bäumen im Tiergarten spielte das alles auf einmal keine Rolle mehr.
Irgendwie sackte etwas in mir tiefer. Ich fand Grund. Mitten im Orkan. Tiefe Ruhe.
Eine wunderbare Lebendigkeit durchflutete mich.
Kein Ich. Kein Gott. Keine Worte.
Sondern lebendiger Frieden.
Ich stand auf. Mein Sohn blinzelte.
Wir gingen weiter. Einfach ohne „einfach ohne“.
Sondern mit „allem, was ist“.
Akku sei dank.