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Liebe(r) konkret: Perfekt gemacht!

//Originalfassung eines Kolumnentextes für das www.fortschrittsforum.de. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Perfektion ist alles in diesen Tagen: Angefangen von der Wunsch-DNA über die Zero-Waste-Econmy bis hin zum staatlich verordneten Plan für das lebenslange Lernen. Zeit, dem Dreckigen wieder einen Platz im Anthropozän zu geben, findet unser Kolumnist Sven Schlebes. Bevor das Blattgold der schönen neuen Welt zerplatzt.

Der Horror ist zurück. Ganz still und leise. So wie es sich für das wirklich Abgründige gehört. Er wartet nicht da draußen in der bösen Welt. Nein, in bester Metallica-Manier tritt der Sandmann dort in den Leben, wo du dich am sichersten fühlst. In deinem Innersten. Du denkst, du hast alles richtig gemacht. Hast alle Ratgeber richtig gelesen. Hast alle Hilfeangebote via Mentoring angenommen, deinen Lebenslauf optimiert, richtig an dir gearbeitet. Deine Social-Media-Streams sind Sextings-gecleant. Kein dunkler Fleck lastet mehr auf dir. Zumindest nicht mehr im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit. Und auch da gibt sich die Gesellschaft alle Mühe: Aus Integration wird Inklusion. Aus fossil erneuerbar. Aus Rind Tofu. Schnell ein Selfie rauf auf Instagramm: So sehen Sieger aus.

Und dann: Bam! Deine Freundin kommt mit dem Ergebnis der neuen Trisonomiefrüherekennung nach Hause. Positiv. Aus der Traum vom perfekten Leben. Wenn ihr als Paar jetzt nicht zu den 10 Prozent Abweichlern gehört, entscheidet ihr euch für einen Abbruch. So wie die Mehrheit. Das ist euer gutes Recht. Und eine verdammt persönliche und heikle Angelegenheit. Es gibt Millionen von Gründen. Doch die hohe Abbrecherquote zeigt: 70 Jahre nach der Debatte um das unwerte, weil nicht perfekt Leben ist das Thema wieder da: Leben nach Norm. Eben so, wie es sein sollte. In unseren Vorstellungen. Und da hat sich trotz Aktion Mensch und Kompanien von Vereinen, Initiativen und Stiftungen nichts dran geändert.

Auf dem Papier sieht alles wunderbar aus: Deutschland – das Paradies der Inklusion. Getreu dem Swingermotto: Alles kann – nichts muss. Buntes Leben. Bunte Lebensläufe. Bunte Identitäten. Bunte sexuelle Orientierungen. Bunte Körperwirklichkeiten.

Doch hinter der politisch korrekten Hochglanzfassade gähnt der innere Abgrund. Unbemerkt hat sich das Bild vom perfekten Leben in unser Hirn und unser Herz geschlichen und alles, was dreckig ist, abgespalten. Undiskutiert gibt es ein Normal-Null-Leben, das von Grundkonstanten ausgeht, die ein Leben lebenswert machen. Unsichtbar wabert es zwischen den Feuilletonzeilen hindurch ohne wirklich Profil zu zeigen. Und doch ist es immer vorhanden: Das Bild vom schönen Leben. Vom schönen Ich. Das Andere kann sein, aber nicht ich. Nicht in meiner Nähe. Denn ich habe es nicht verdient. Und ich werde dafür arbeiten, dass ich auf der Glücksseite stehen werde.

Willkommen im Zeitalter der totalen Optimierung. Vielleicht ist Entwicklung an sich immer ein Optimierungsprozess. Eine Anpassung an die Gegebenheiten. Die Japaner haben das Prinzip Kaizen genannt und den kontinuierlichen Veränderungsprozess hin zum Besseren zur eigenen Entwicklungsmaxime vor allem auf dem Gebiet der Arbeit gemacht.

Bei uns Deutschen trägt Kaizen meistens das Gewand der Effizienz und hat zusammen mit der Königsdisziplin „Mathematik“ von nahezu jedem Lebensbereich Besitz ergriffen. Von der Welt der harten Fakten bis hin zum Reich der gefühlten Wahrheiten: Wirtschaftlicher leben. Gesünder leben. Erfolgreicher leben. Besser leben. Bewusster leben. Glücklicher leben.

Ein ewiger Prozess, am besten objektiv nachprüfbar. Es glänzt König Zahl. Paradiesische Zeiten für Selbstoptimierer, die mit Chip, Wi-Fi und App ab sofort selbst vor Depressionsphasen gewarnt werden können – statischer Maßen.

Das Streben nach Glück, nach dem „Höher, Schneller, Weiter“, nach der Perfektion scheint ein Urantrieb von uns Menschen zu sein. Vielleicht sogar biologisch angetrieben. Im modernen Leben und in der modernen Logik findet er einen nahezu perfekten Bodensatz dafür.

Vielleicht ist die Überwindung der biologischen, der persönlichen und der gesellschaftlichen Unperfektheit Ausgangspunkt und Ziel unseres Lebens. Sie bewirkt Veränderung und legitimiert immer stärker das Handeln von uns Menschen: individuell, wirtschaftlich, politisch usw.

Dann wäre Leben gemäß dem Transhumanismus vielleicht doch eine Transitautobahn, ein sich selbst überwinden wollendes Phänomen. Paradies ist, wenn alles perfekt ist. Da gäben sich sogar Nirvanapilgerer, Offenbarungszeugen und Effiziensgurus gegenseitig die Hand: „Mach es fertig, bevor es dich fertig mach!“ (Hornbach)

Doch wozu dann das Ganze hier? Das Leben in der unperfekten Kloake? Das ewige Ringen und Streben und Kämpfen? Nobody knows.

Verbesserung schenkt Hoffnung. Global gesprochen und individuell persönlich erlebt. Doch wer weiß in Zeiten der Interdependenz schon, ob die Verbesserung eines Bereiches nicht den Zustand anderer Bereiche massiv beeinträchtigt? Am Körper kann man sehen, was passiert, wenn sich nur einzelne Zellen weiterentwickeln. Sie drohen das Gesamtsystem aus der Balance zu werfen.

Das Streben nach Perfektion scheint wie das Streben nach Glück ein Menschheitstraum zu sein und damit vielleicht ein Kern gesellschaftlicher Selbstverständlichkeit. Der Deutsche Traum lässt grüßen. Damit sind Perfektion und Glück nicht nur eine Individualangelegenheit, sondern eine gemeinschaftliche definierte Größe, die jedem von uns Platz und Raum gibt für uns und unser „richtiges“ Glück.

Die Glücksdebatte ist in den letzten Jahren so richtig in Fahrt gekommen, und mit ihr auch das Suche nach Verbesserung und Perfektion.

Doch nur langsam nähern wir uns der angeblichen Schattenseite des Glücks – dem unperfekten Leben. Unabhängig von der Sinnfrage scheinen wir Menschen nicht nur hoffnungslos überfordert mit Glück und dem Streben danach sondern auch mit dem Umgang mit angeblichen Unglück.

Verspendet, professionell bekümmert und vertherapeutisiert ist es ertragbar, das Leid dieser Welt. Auch in einer inklusiven Gesellschaft. Solange, bis es Teil meines eigenen Lebens wird und ich es nicht mehr wegdelegieren kann. Das Kainsmal unseres modernen Lebens. Unperfekt. Und damit unglücklich?

Es ist eben nicht die Fähigkeit zu ständigen Verbesserung, die uns vor allem fehlt. Das haben wir in Zeiten der Durchoptimierung selbst des tertiären Sektors durch Unternehmensberater gründlich gelernt. Es ist die Fähigkeit, mit der Dunkelheit umzugehen und Leid zu lernen. Das mag zynisch klingen und vormodern. Ja, fast schon reaktionär.

Aber spätestens seit der Drohung der NSA, die virtuell aufgezeichneten Lebensmerkmale eines Menschen vom Telefonat mit Mitmenschen über das Einkaufsverhalten bis hin zum Pornokonsum im Notfall öffentlich wirksam als Zersetzungsmaßnahme einzusetzen, oder den an EUROSUR-Wall zerschellenden Flüchtlingswellen wird symbolisch klar: Perfektion und Optimierung sind letztlich getunte Diskurswelten, die keinem ganzheitlichen Realitycheck standhalten und ohne die Fähigkeit zum Umgang mit dem angeblich Unperfekten selbst zum Scheitern verurteilt sind.

Vielleicht hilft es, wenn wir dem Streben nach Perfektion ein wenig die Härte gegenüber dem Leben und uns selbst nehmen und etwas mehr sowas wie Liebe zum Tragen kommen lassen.

Dann kommen wir zwar langsamer und dreckiger zum Ziel.
Aber die Reise dorthin wird entschieden reichhaltiger und das Leben bekommt Stil. Selbst in der Kloake.

Das wäre dann wahrlich „perfekt gemacht“.