Liebe(r) konrekt: Keep in contact
Originalfassung eines Artikel für die Kolumne des www.fortschrittsforum.de der Friedrich-Ebert-Stiftung e.V.
Entscheidungen brauchen Raum, Zeit und Übersicht. Denn sie sollen wirken. Nachhaltig. Deshalb haben Menschen, die entscheiden, einen besonderen Raum, besonders viel Zeit und besonders viel Übersicht. Doch soviel Besonderheit verführt: zum Selbstzweck. Zeit für Kontakter, findet unser Kolumnist Sven Schlebes, die die Verbindung herstellen zum Reich der Entscheidungsauswirkungen. Zeit für eine neue APO mit viel Hautkontakt.
Zukunft hatte Hochkonjunktur in den letzten Jahren. Gesprächsrunden und Laboratorien aller Orten. Manifeste, Artikel, Internetseiten. Wir vom Fortschrittsforum gehörten dazu. Der Diskurs hatte mit Wollust alle Gefahrenfelder lokalisiert, Herausforderungen skizziert und die universelle Lösungsformel kreiert: Befähigung zur Partizipation an den Governanceprozessen einer sich selbstermächtigenden, inklusiven Gesellschaft, insbesondere der „zivilen“. Die Glücksformel einer evolutionär veränderten Gesellschaft für ein gutes und gelingendes Leben. Eine Knochenarbeit. Jedoch ohne Fleisch. Dafür fehlte die Zeit. Und so wählte Deutschland die alte und ihre Glücksformel: Sicherheit. Arbeit. Beständigkeit. Das Versprechen auf Wohlstand. Am besten in durchstrukturierter Ordnung von der Wiege bis zur Bahre. Für alle. Oder mit Blick auf Lampedusa; Griechenland und Spanien: Für alle von uns. Hier drinnen. Im besonderen Land mit einer besonderen Geschichte und einer besonders guten Wirtschaft. Für uns Deutsche eben.
Jetzt ist Zukunft erst mal Geschichte. Was soll sie auch schon bringen, diese Zukunft, ausser einer Verschlechterung des aktuellen Zustandes? „Halten so lange es geht“, heißt bei vielen die Devise. Am besten hinter möglichst vielen Festungsmauern. Ermüdet vom dauerhaften Krisengerede haben viele von uns die Sicherheit des Augenblicks gewählt. Eines Augenblicks, der nur ein Ausschnitt der Gesamtgeschichte ist. Von der ich aber nichts hören will. Weil sie nicht meine ist. Und auch nie werden wird. Dafür arbeiten wir alle hart.
„The best is yet to come“, sang Frank Sinatra in der Mitte des letzten Jahrhunderts. „And won’t that be fine. You think you’ve seen the sun, but you ain’t seen it shine.“
Wer heute seine Mitmenschen nach einer möglichen Zukunft befragt, schaut in ernste Gesichter. Alles scheint möglich. Und das Schlechte besonders. Daran haben Zukunftspropheten wie wir im Fortschrittsforum einen entscheidenden Anteil. Horrorszenarien waren und sind unser Spezialgebiet. Nicht ohne Grund. Wir haben den Horror alle selbst in der Vergangenheit persönlich gespührt: Während eines Urlaubes, einer Krankheit, eines besonderes Erlebnisses. Sonst würden wir mit großer Sicherheit den „Alles ist gut“-Traum ebenfalls träumen. Doch irgendwann hat und irgendetwas berührt. Es ist uns eiskalt in die Glieder gefahren. Und hat uns angetrieben. Psychologen würden sagen: Antrieb aus Mangel oder Angst. Dieser Mangel und diese Angst hat uns Flügel verliehen und zugleich blind gemacht für das Schöne in dieser Welt. Wir haben es nicht geschafft, das Leuchten einer zukünftigen Sonne deutlich herauszustellen. Und dabei trug unser Gremium das Versprechen im Namen: Fortschritt. Wir haben ihn nicht gespürt und wurden deshalb nicht von ihm getragen. Fortschritt – aus unserem Munde klang das nicht nach Sommerwind, sondern eher nach Arbeitslager.
Unsere Warnungen mögen gerechtfertigt sein, der Weg steinig, die Mühen groß. Und doch haben wir versagt, eine leuchtende Zukunft zu entwerfen, die ebenfalls berührt. Positiv. Und noch viel mächtigere Flügel verleiht.
Es ist wahr: Die so viel von uns gescholtenen Entscheider haben den Kontakt zu den Auswirkungen ihrer Entscheidungen (im Tun als auch im Nicht-Tun) verloren. Und sie werden erst handeln, wenn sie selbst in ihrem eigenen Leben zu Betroffenen werden, also berührt werden: Das zeigen die NSA-Affäre auf der einen Seite und das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer auf der anderen Seite mit ihrer „Das-Boot-ist-voll-Debatte“ in diesen Tagen noch einmal sehr deutlich.
Doch ebenso haben wir Betroffenen den Kontakt zur Lebenswirklichkeit vieler Menschen in unserer Gesellschaft verloren. Und noch viel trauriger: der Schönheit des Lebens. Auch wir befinden uns größtenteils im Abwehrkampf einer Dystopie und haben so kaum Kraft für den Entwurf einer Utopie. Auch wenn sie angeblich im Zeitalter der neuen Sachlichkeit und des Realismus selbst Teil einer Geschichte von Gestern zu sein scheint.
Wir alle zusammen sind Gefangene unserer Wahrheiten, die aber eben nur halbe Wahrheiten sind und den Blick auf das Große und Ganze sowie das Wunder des Lebens versperren.
Und wir alle brauchen Kontakter, die uns wieder in Verbindung bringen mit dem Phänomen „Leben“.
Das Wochenmagazin „Der Freitag“ beschwor angesichts der herrschenden Parlamentsverhältnisse die korrigierende Kraft der Satire. Aus meiner Sicht Galgenhumor für Gegenwartsgefangene ohne Hoffnung auf Veränderung. Und die zynische Weiterentwicklung einer als „nett“ belächelten Occupybewegung.
Eine wirkliche APO, die sich als Anwalt einer neuen Zukunft versteht, müsste sich die Gewaltfreiheit, den Mut und die Entschlossenheit eines Mahatma Ghandi zu nutze machen und die Angst vor dem Vollkontakt mit dem Leben verlieren. Die APO der Zukunft gehört den Kontaktern. Denn sie werden Verbindungen herstellen zu den Auswirkungen von Entscheidungen sowohl auf systemischer als auch individueller Ebene und so die Menschen in den Chefsesseln und an der Konsumfront zu Betroffenen machen. Sie werden den Kontakt aufbauen zu Best Practice – Beispielen und damit einer leuchtenden Zukunft. Und sie werden mutig den Druck auf Schlüsselakteure erhöhen. Denn in einer Netzwerkgesellschaft gewinnen und verlieren wir zusammen.
Das riecht nach Wagnis. Und das schreit nach einer neuen Aktivistenethik im Zeitalter von zivilgesellschaftlich initiierten und beeinflussten Transformations- und Governanceprozessen.
Doch jede Veränderung beginnt mit dem ersten Schritt.
Im Vollkontakt.