PRISM ME. Facetten einer Wahrheit.
Aufgewachsen bin ich in einem freigeistigen Haushalt mit konservativen Wurzeln. Ich bekam die Werte der sogenannten „geistig-moralischen Wende“ von 1982 vorerzählt. Und glaubte an sie. Und bekam beigebracht, wie gruselig die 68’er doch seien. Und stellte mich in die Reihen der Schwarzen. Von meinem Vater lernte ich die Werte der Sorgfältigkeit, der Ordnung, der Disziplin, der leidenschaftlichen Anstrengung, der Achtung vor dem Geld, der Wichtigkeit der Familie, des Mutes zum eigenen Weg; Ich lernte es zu schätzen, den Pioniergeist zu leben, anderen zu helfen, einfach dazusein, manchmal nicht zu fragen, Andersartigkeit zu respektieren, auf andere zuzugehen und zu helfen; Ehrlichkeit zu leben, allem Misstrauen und der Angst dem Anderen gegenüber zum Trotz. Und wir hatten verdammt viel Respekt gegenüber den Anderen, manchmal war es Angst pur. Von meiner Mutter lernte ich die Wichtigkeit der Nähe, der Einfachheit, des Vertrauens auf etwas Höheres und dem eigenen Gewissen, der Unterstützung, des Vergessens von Standeszugehörigkeiten und Eitelkeiten, der Liebe, der Hingabe, des Zuhörens und der Verbundhenheit mit anderen und vor allem der Natur. Ich konnte in meiner Familie sehen, wann aus einem sicheren Hafen eine Mauer wurde, eng und sehr kalt, wie Mauern fielen und Boote gebaut wurden. Wie man reisen kann und zurückkommen darf. Wie Fehler gemacht werden, sich entschuldigt und versucht wird, Vielfalt zu leben. In Gemeinschaft. Mal ist man näher dran, mal weiter weg.
Seitdem ich politisch arbeite, treffe ich viele Menschen. Wir alle sind fehlerhaft, haben unsere Ecken und Kanten, unsere Eigenarten. Aber ich habe gesehen, dass die so oft proklamierte „geistig-moralische Wende“ inklusive sozialer Marktwirtschaft von den eigenen Protagonisten nicht eingehalten wird. Sogar mit Füßen getreten wird. Ähnlich wie die irischen Bänker lachen sie über diejenigen, die sich daran halten, oder begründen ihr Verhalten mit der Sicherheitslage, dem Markt, dem bösen Chinesen, der unausgesprochenen Allgemeingültigkeit ihres amoralischen Verhaltens. Sie nennen es Staatsräson, Vernunft und Verantwortung und kaschieren damit nur ihre eigene, sehr enge Interessenslage.
Sie freuen sich, wenn sie keine Steuern oder Sozialabgaben zahlen müssen, auch wenn gerade sie es müssten und könnten. Sie beschäftigten – ohne mit der Wimper zu zucken – Reinigungskräfte und Handwerker schwarz und fühlen sich dabei noch im Recht: „Macht ja eh jeder so.“ Sie plagiieren, stechen aus, verraten, arbeiten und leben rein vorteilsorientiert. Das Tritinische Diktum der konservativen APO – es stimmt. Und wer einmal hinter diese Seilschaften geblickt hat, wendet sich mit Grausen ab. Oder verkauft sich und wird dort heimisch.
Das alles hätte mich nicht berührt, wäre ich nicht mal einer von ihnen gewesen.
Ich habe mittlerweile mit Menschen aus allen politischen Lagern reden und zum Teil auch arbeiten dürfen. Parteipolitisch, zivilgesellschaftlich – organisiert und unorganisiert.
Und überall, wo angeblich der „Feind“ wohnt, habe ich Freunde getroffen und Menschen, die sich – frei nach Pina Bausch – nach einem besseren Leben sehen und inständig nach Ausdrucksformen suchen, um ihr Inneres mit dem Äußeren in Frieden zu bringen. Sie überwinden sich selbst, ihre Vergangenheit und vor allem ihre Ängst, um sich weiterzuenzwickeln. Sie lassen ihre geistigen, emotionalen und biologischen Familien hinter sich, um neue Netzwerke zu knüpfen, Bewegung ins Spiel zu bringen, natürlich neue Fehler zu machen, aber mehr und mehr miteinander in Vielfalt und Achtung und Respekt und „Liebe“ zu machen.
Das, was gerade passiert, ist so jämmerlich. Die, die angeblich dem System und dem Staat misstrauen, übergeben sich komplett einem diffusen Übersystem wohlwissend, dass diese Daten nie mehr gelöscht werden. Selbst wenn sie „demokratisiert“ werden – durch Kommissionen oder sonst was – werden sie für angebliche Bedrohungsabwehrszenarien oder Staatsoptimierungsphantasien eingesetzt werden. Da man ja sowieso nicht mehr den Mut hat, langfristige Entscheidungen für irgendwas zu treffen, wird man in den Datenströmen nachschauen, was denn opportun ist. Und dann Entscheidungen treffen. Ähnlich wie in Brasilien geht es nicht um 20 Cent. Es geht um das System, das ganze Denken und das Menschenbild, das dahinter steckt, und die verkorksten Typen, die man daran setzt. Das ist verfxxx Problem.
Nein, es ist nicht in Ordnung. Sondern es ist das letzte Zeichen einer totalen inneren Verfaultheit. Einer Auslieferung an Ängste, der scheinbaren Objektivität von Algorithmen und einer Überakademisierung, die sich komplett vom Leben entfernt hat. Das hier ist das absolute Gegenteil von einer geistig-moralischen Wende. Es ist der totale Bankrott. Mögen die Finanzen auch stimmen. Aber es geht um das Leben. Um Würde, Anstand und Freiheit.
Und das hier ist es nicht! Ja, es lohnt sich, sein eigenes Leben, das man da in das abgesicherte System reingesetzt hat, zu überdenken. Ja, es geht um mehr als die eignen Raten für irgendwas.
Aber ach, wisst ihr was: Ihr könnte ja in zwanzig Jahren mit euren Kindern und Enkeln dann ein Buch über die Veränderungen lesen und sagen: „Ja, wir waren mit dabei.“
Aber eben nur dabei.
So. Das musste jetzt mal raus.