Gemeinsame Sache
>>Originalfassung eines Artikel für theo, 03/2013. Präsentation mit freundlicher Genehmigung der theo Unternehmensgesellschaft.
theo-Redakteur Sven Schlebes zu Besuch beim Ökumenepreisträger 2013, Christian Herwartz, auf der Suche nach dem theologischen Sinn und Unsinn von Armut.
Es gibt Türen, durch die möchtest du nicht unbedingt gehen, wenn du die Wahl hast. Sie sind meist knorrig und eher unscheinbar, unwirtlich noch dazu und weit und breit kein roter Teppich, der dich einladend empfängt. Manchmal musst du jedoch. Dann ist sie die einzige, die dir den Ausweg aus deinem jetzigen Leben offenbart. Und du bist unendlich dankbar, dass sie da ist, diese Tür.
Ich bin auf dem Weg nach Kreuzberg zu einer dieser Türen. Aufrecht steht sie in einer Nebenstraße vom Kottbusser Tor. Die kunstvollen Intarsien trotzen den Schmierereien, die hier in der Gegend üblich sind. Christian Herwartz, Jesuit und ehemaliger Arbeiterpriester, wohnt hier in einer Wohngemeinschaft mit Menschen, die es eigentlich in modernen Gesellschaften nicht geben dürfte. Wohnungssuchende, Papierlose, Abhängige, Suchende. Ein Mitbruder hatte mich zu ihm geschickt: „Wenn es einen gibt, der sich mit Armut auskennt, dann der Christian.“
Es ist Frühsommer in Berlin. Dauerregen, den ganzen Tag. Die Straßen sind glitschig vom Blütenbrei der Straßen. Eigentlich der Moment, in dem die Stadt über Nacht aus ihrem depressiven Schwarz erwacht und die Zeit des immerwährenden Kontinentalsommerhimmelblau beginnt. In diesem Jahr versackt das Blau im Dauergrau. Irgendwie ist alles anders. Nicht nur in Berlin. Es ist die Zeit der Jahrhundertflut in Mitteleuropa, der Unruhen in der Türkei und der mal wieder glänzenden Aktienkurse. Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeiten. Augenscheinlich nicht zusammengehörend. Und doch da.
Armut, so die Auffassung von Christian Herwartz, das ist dort, wo dein eigenes Leben endet und das Andere beginnt. Wer hierhin aufbricht, lässt seinen eigenen Reichtum, sein inneres Vermögen, sein Wissen und seine Sicherheit hinter sich und zeigt sich nackt. Ist offen und verwundbar. Für Christian Herwartz der Ort der Menschwerdung Gottes, der Vervollständigung und damit Heiliger Boden. Für bürgerliche Westberliner wie mich bleibt er trotzdem ein gefährliches Pflaster, dieser Szenekiez mit seinen arabischen Familienclans, Vorhut-68-Kolonnen und 1-Mai-Auseiandersetzungen. Weswegen ich auch alle Wertgegenstände vorsichthalber Zuhause gelassen habe. Mein Besuch in Sachen Armut soll mich schließlich nicht wirklich arm machen. Zwei Sicherheitsschlösser baumeln an meinem Fahrredlenker. Sicher ist sicher.
Ängstlich und äußerst umständlich befestige ich damit mein Fahrrad an einem gut einsehbaren Zaun. Scheinsicherheit. Ich weiß. Ein weißer Porsche Cayenne parkt direkt neben mir. Eine Spiegelsonnenbrille grinst mich an. Im Reflexpunkt blitzt kurz mein Spiegelbild auf. Oh mein Gott. Wie jämmerlich.
Den Weg zur ehemaligen Jesuitenkommunität kenne ich bereits. Vor sechs Jahren hatte ich mit einem Freund an einer der mittlerweile berühmten Straßenexerzitien teilgenommen. Einen Tag lang Straßenmeditation auf der Suche nach dem Erscheinen des Heiligsten im Alltag. Die Lightvariante für absolute Beginner, wie ich im Nachhinein feststellen musste. Die echten Streetrunner machen das mindestens eine Woche lang. Ohne Handy, Geld und Orientierung, dafür aber mit einem persönlichen Gottesnamen auf dem Weg zum Chef. Aus ganz Deutschland kommen die Menschen mittlerweile hierhin, um sich in entscheidenden Phasen ihres Lebens begleiten zu lassen. Moderne Ignatische Impulsreisen nennt das Christian Herwartz in Anlehnung an das Wirken seines Ordensgründers Ignatius von Loyola. Raus aus der persönlichen Komfortzone und rein ins Nomansland der Ängste, Sorgen und Dämonenfratzen. Eben dort, wo der andere Gott wohnt. Der, der nicht ich ist. Sondern die restlichen 99,9 Prozent der Welt. Und damit der wahre Reichtum des Lebens.
Ich bin wie immer zu spät. Diesmal sind es nur 10 Minuten. Aber ich unterschätze immer die eigentliche Wegstrecke. „Wer sich auf den Weg der Straßenexerzitien macht, sollte bedenken, dass zuerst Heilung geschieht und dann Berufung. Beides braucht seine Zeit.“ Als Christian Herwartz Mitte der 70’er mit einem anderen Jesuitenbruder nach Berlin Kreuzberg gezogen war, galt der Kiez als Auffangbecken für die Nonkonformisten. Besonders günstig, ein wenig heruntergekommen, schlecht sanierte Wohnungen, viele sogenannte Gastarbeite, wenig Herkunftsfragen, dafür umso mehr Nischen fürs Dasein. Genau der richtige Ort, um das im Aufbruchfieber der 70er Jahre entwickelte neue Selbstverständnis der Jesuitischen Gemeinschaft als lebendige Experimentiergemeinschaft in die Realität umzusetzen: „Oft schon unsere Herkunft, dann unsere Studien und unseren Bindungen schirmen uns von der Armut ab, selbst von dem einfachen Leben und seinen täglichen Sorgen. Wir haben Zugang zu Wissen und Macht, wie ihn die meisten Menschen nicht haben. Es wird daher nötig sein, dass eine größere Zahl der Unsrigen das Los der Familien mit bescheidenem Einkommen teilt, das heißt das Leben derer, die in allen Ländern die Mehrzahl bilden und oft arm und unterdrückt sind.“ (4. Dekret der 32. Generelkongreation 1974/75).
Ein Lebensentwurf, der auch damals schon im schroffen Gegensatz zu vielen bürgerlichen Ordensexistenzen stand. Abseits von Macht, Einfluss und Ansehen. Ein Schattendasein, um das Licht zu finden und zu bezeugen. Segensreich, aber mit nicht unbeträchtlichem Gefahrenpotenzial. Denn wenn der Schatten zum Alltag wird, die Begegnung mit der Armut zur Routine, kann die Erinnerung an das Strahlen der Sonne verblassen. Und die Lebensfreude weichen. Als Christian Herwartz sein eigenes Lebes in der Begegnung mit der Armut bereichert sah, verlor er den Kontakt zu Jesus Christus.
Hinter mir fällt die schwere Eingangstür ins Schloß. Dunkelheit breitet sich aus. Ein beklemmendes Gefühl. Allein im Treppenhaus. Unter Verzug. In Gedanken suchte ich immer noch nach einem passenderen Abstellort für mein Fahrrad. Doch nur wenige Sekunden später geht das Licht an und eine Stimme ruft von oben: „Hallo. Sie sind hier richtig. Man wartet schon auf Sie.“ Doch Zuhause. Irgendwie.
An der Tür erwartet mich einer von Christians Mitbewohnern. Er wohne hier nur mal so ab und zu. Aber schön, dass ich den Weg hierhin gefunden habe. Er begleitet mich noch in den Gemeinschaftsraum der WG. Ein einfacher Holztisch steht in seiner Mitte. Eine Bank und sechs Stühle umgeben ihn. Kaffee wird gebracht. Christian erscheint. Er hustet. Eine hartnäckige Grippe: „Hallo Sven. Herzlich willkommen. Lass uns loslegen. Dann kann ich wieder ins Bett. Was abgearbeitet ist, ist abgearbeitet.“
Sein Leben lang wollte Christian nicht über etwas reden, das er selbst nicht war, sondern zunächst einmal selbst sein, um so zu wahrer Begegnung gelangen zu können. In seiner ersten Lebenshälfte war es das manuelle Arbeiten, das ihn in Gemeinschaft mit den Benachteiligten führte. Erst der Kontaktverlust zu Gott in der Lebensmitte und die daraus entstehende Krise haben zum Exerzitienorganisator und -begleiter werden lassen. „Ein wunderbarer Weg, um sich noch intensiver auf die ursprüngliche Beziehung von Gott und Menschn einlassen zu können. Dies kann nur in voller Armut geschehen, so wie Jesus auch vor Gott steht (Mt 5,3). Nichts steht zwischen ihm und dem Vater. Diese Art der Armut ist die Wurzel der Freiheit von jeder Entfremdung.“
Es klingelt an der Tür. Eine Physiotherapeutin kommt herein. Sie kümmert sich um den Rücken des ältesten Bewohner der Herwartz-WG. Unentgeltlich. Selbstverständlich.
„Geld spielt hier keine Rolle. Hier sind alle gleich. Diese Erfahrung ist unendlich wertvoll. Und sie heilt. Oder besser gesagt: Jesus Christus heilt in der Begegnung.“ Mächtige Worte. Ob es denn auch mal Menschen in der WG gegeben habe, die mal raus aus der Armut wollten. Kopfschütteln. „Das Leben hier ist nicht arm. Es ist in siner Begegnungsdichte unendlich reich. Aber das sind andere Maßstäbe. Ihr denkt immer nur, im Leben gehe es darum, ausreichend versorgt zu sein. Doch das ist nicht der Sinn von Leben. Es ist die Befreiung des Menschen aus der Armut seiner eigenen Persönlichkeit. Es geht um Heimkehr. Um Heiligkeit. Vollendung “
Schon lange habe ich keinen Menschen mehr in so einer sanften aber deutlichen Bestimmtheit reden hören. Das Gesagte widerspricht meiner täglichen Arbeit, andere Menschen zu einem selbstbestimmten Leben zu befähigen. Mehr aus sich zu machen. Und doch gefällt mir der Generalangriff auf mein Lebenskonzept. „Ich nenne das die Spiritualität der Störung“, ergänzt Christian, als er meine Irritation wahrnimmt. „Du wirst sehen, dein Weltbild wird nach und nach erudieren und du wirst den Blick freibekommen für den auferstandenen Jesus Christus. Es ist ein zentraler Teil der sogenannten Herzensschulung der Straßenexerzitien.“ Christian hatte nicht vergessen, dass ich bereits vor Jahren bei ihm am Küchentisch gesessen habe auf der Suche nach meiner Berufung.
„Manche sind nur einen Tag lang unterwegs. Andere eine Woche. Manche Monate. Wenige Jahre oder sogar ihr Leben. Denk daran: Erst kommt die Heilung. Dann die Berufung.“
Nachdenklich steht ich vor einer Wand mit Photos. Ein kleines Mädchen von ca. fünf Jahren lächelt darauf. Was ist mit ihr, frage ich. „Sie ist gestorben. Umgekommen bei einem Wohnungsbrand zusammen mit ihrer Mutter. Sie stand eines Tages mit einem Mann vor meiner Tür. Er gab sich als ihr Entführer aus und bat um Einlass. Zwei Sozialarbeiterinnen hatten ihn zu mir geschickt. Es war der leibliche Vater auf der Flucht, der sein eigenes Kind vor dem Missbrauch durch den neuen Lebensgefährten der Mutter schützen wollte. Das Amt hat ihn trotzdem ausfindig gemacht und das Kind zurückgeschickt. Wenn du dich entscheidest, deine Tür aufzumachen, in deine eigene Armut zu gehen, passiert immer etwas. Du weist nur nicht, was. Auf einmal bist du mitten drin im Leben. Und du musst dich dazu in Beziehung setzen. Das, Sven, das ist die Vervollständigung des eigenen Lebens durch die Hingabe an die eigene Armut.Dadurch bekommt es Substanz, dein Wirken Kraft und dein Sprechen Sinn.“
Der Husten wird stärker. Für dieses Benennen-Was-Ist hat Christian in diesem Jahr den Ökumenepreis 2013 erhalten. Nicht in Sachen Armut. Sondern für sein religionsübergreifendes Engagement gegen die Abschiebepraxis. Ein Leben in Entschiedenheit. Mit einem Mal sind mir alle meine schön ausgedachten Fragen entfallen. Für einen Moment bleiben das Bild des verstorbenen Mädchens, Christian, der Küchentisch und ich. Ein merkwürdiges Gefühl. Zunächst ein wenig Angst. Dann eine tiefe Ruhe.
Es gibt Türen, durch die möchtest du nicht unbedingt gehen, wenn du die Wahl hast. Manchmal musst du jedoch. Dann ist sie die einzige, die dir den Ausweg aus deinem jetzigen Leben offenbart.
Buchtipps:
Christian Herwartz. Auf nackten Sohlen. Exerzitien auf der Straße. Echter Verlag 2006.
Christian Herwartz. Brennende Gegenwart. Exerzitien auf der Straße. Echter Verlag 2011.
Web:
www.con-spiration.de/exerzitien
E-mail:
christian.herwartz (at) jesuiten.org