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Liebe(r) konkret: Die neue Schule der Nation

>> Originaltext einer Kolumne für www.fortschrittsforum.de. Mit freundlicher Genehmigung der Friedrich-Ebert-Stiftung.

 Bild hat’s mal wieder auf den Punkt gebracht: Es herrscht Kita-Krieg. Zuerst fehlten die Plätze, dann das Geld, zu guter Letzt die Erzieherinnen und Erzieher. Jetzt ist angeblich auch das Vertrauen zwischen Eltern und dem Pädagogenteam entschwunden. Dabei setzt nicht nur das Fortschrittsforum große Hoffnung auf den frühkindlichen Bildungsbereich. Eine ganze überalternde Nation bangt um seine Zukunft „Made by Kita“. Damit tragen mal wieder die Schwächsten der Gesellschaft unsere gemeinsam verdrängten Altlasten findet unser Kolumnist Sven Schlebes und fordert einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs über das Grundlagen unseres neuen WIR.

Früher besuchten Soldaten die sogenannte „Schule der Nation“. Das war zu Zeiten, als die Armee das pochende Herz eines starken Staatskörpers darstellte. Hier war angeblich jeder gleich – an der Waffe, in der Ausbildung, für den Kampf. Ein männliches Volk in Soldatengrau mit einer Erziehung, die den Untertan auf Linie brachte. Wo die Linie verlief, bestimmten Staatsräson und Katechismus. Und die waren gott- und schicksalsgegeben.

Als aus dem Soldaten dann der Bürger in Uniform wurde, kam irgendwie der Schule der Hauptauftrag in Sachen in milieuübergreifender Menschen- und Nationenbildung zu: mit den grundlegenden Kulturtechniken, körperlicher Fitness, Anstand und Gewissen in ein nützliches Leben! Der Lehrer: das Nadelöhr zur Zukunft fürs Individuum und seine Gesellschaft. Jahrzehnte lag der Superhero der Nation unter diskursivem Dauerbeschuss von überforderten Eltern, enttäuschten Hochbegabten, abgehängten Hoffnungslosen, BIP-erwirtschaftenden Unternehmen, alternden Schreibikonen, viertplatzierten Olympioniken, ausgewanderten Nobelpreisträgern, Wahl-gewinnen-wollenden-Politikern. Doch nicht nur die Nation und das Leben wurden bunter. Auch die Vorstellung von Bildung veränderte seine Schwerpunkte: von der Gemeinschaftsperspektive hin zur Individualebene, über die Inhalts- und die Kompetenzvermittlung bis hin zur Potenzialentfaltung. Bildungspolitik wurde zur ultimativen Gesinnungsfrage und damit zur Nagelprobe für das Menschenbild schlechthin. Doch die inhaltlichen Debatten wurden nie richtig sauber durchgeführt. Zu verführerisch waren die materiell-strukturellen Nebenkriegsschauplätze, die bei aller Wichtigkeit den Kernfrage von Bildung, nämlich „Was-von-wem-mit-welcher-Rechtfertigung-in-welcher-Art-wofür?“ aus dem Weg gingen.

Bis Deutschland auf einmal entdeckt, dass Familie im 21. Jahrhundert von Anfang an ein Lebens- und Erziehungspartnerschaftsmodell ist, das mehr Konstanten und Akteure beinhaltet als die reine biologische Familie. Im Jahr 1 des Rechtsanspruchs auf einen Kitaplatz wird deutlich: Menschenleben im 21. Jahrhundert findet auch in Deutschland immer früher und immer öfter ausser haus statt. Meist schon ab dem ersten Lebensjahr. Was auf den ersten Blick wie ein rein logistisches Problem anmuten mag – mehr Ressourcen, mehr Platz und ab geht die Marie – entpuppt sich auf den zweiten Blick als Frontvorverlagerung des großen gesamtgesellschaftlichen Disputes um die Grundlagen für ein gelingendes Leben in Gemeinschaft von der Schule in den frühkindlichen Bildungsbereich. Wer es noch nicht begriffen haben sollte: Kindertagesstätten sind kein Outsourcingmodell für Lebens- und Erziehungsverantwortung. Mit dem ersten Eingewöhnungstag sind sie integraler Partner jeder noch so kleinen Familie: herkunftsunabhängig. Hier werden die Grundlagen gelegt für gelingendes Leben – und zwar sowohl des Kindes als auch der Familien. Denn wer heute eine Familie gründet, kann nur in den seltensten Fällen Rückgriff nehmen auf eigene Erfahrungen aus der Vergangenheit. Zu sehr haben sich die Lebensrealitäten verändert. Und so bedeutet Elternschaft heute vor allem auch einen totalen Neuanfang: alte Familienbilder werden ausgemistet, die eigenen Lebensgrundlagen in Frage gestellt. Auf der einen Seite wissen wir heute so viel wie noch nie über die „richtige Erziehung“. Vor allem über die Fehler, die man machen kann. Das schlechte Gewissen ist ein Dauerbesucher am morgentlichen Frühstückstisch. Auf der anderen Seite sind wir oft mit dem Aufbau unseres beruflichen und eigenen Lebens in seiner ganzheitlichen Herausforderung schon so gefordert, dass wir Hilfe im Umgang mit den lieben Kindern wunderbar gebrauchen können. Doch wem soll, wem kann man heute noch vertrauen? Den eigenen Eltern? Den Schulmedizinern oder vielleicht doch eher den Homöopathen? Stellen wir alles um auf Bio oder gibt’s mittags auch mal Fritten? Was ist mit Bekleidung aus Industrieproduktion? Haben das Smartphone, das Tablet und der Fernseher ab sofort Sendepause? Und wo überhaupt bleibe ich bei der ganzen Geschichte? Sicher, es gibt immer einen, der Rat weiß: Die beste Freundin, die schon zwei Kinder hat. Die ganzen Familienmagazine mit Hippnessfaktor. Aber wie immer ist bei meinem Kind alles anders. Familienratgeber hin oder her. Und einen großen, gesamtgesellschaftlichen Kompass und „Erste-Hilfe-Koffer-für-junge-Familien“ gibt es schon lange nicht mehr. Globalisierung und Individualisierung bestimmen unser Leben. Ein absoluter Reichtum, der jedoch nicht gehoben werden kann, weil aufgrund innerer Orientierungslosigkeit und Schwäche und daraus resultierender überzogener Selbstreferentialität und Abschottung der Lebensweltgruppen (vgl. hierzu Wehler, Die neue Umverteilung) die Menschen immer weniger wirklich miteinander in Berührung kommen, sondern nebeneinanderher leben. Jeder auf seine Art und Weise. Fit für den Wettbewerb. Mit Sprachlern-Überwachungsakte und Kompetenzentwicklungskurvenverlauf. Die „Nation“ – eine wirtschaftliche Zweckgemeinschaft mit Versicherungspolice für den sozialen Fall. Aber eben keine starke, intentionale Handlungsgemeinschaft mit Zukunftskreationsoption.

In einer Zeit der sich auflösenden Übergangsriten stellen die Geburt des eigenen Kindes und der Tod der eigenen Eltern die letzten einschneidenden Schwellenerlebnisse dar, die die Grundlagen des eigenen und damit auch des gemeinschaftlichen Lebens berühren. Wird das ICH mit dem Tod der Eltern gefühlt endgültig in die Unabhängigkeit entlassen, stirbt es selbst bei der Geburt meines Kindes und geht auf in einem neuen WIR. Was aber steht im Mittelpunkt dieses neuen WIR? Unsere Jobs? Die unendliche Verfügbarkeit für die Bedürfnisse des Netzwerkmarktes der ICH-AG’s? Welche Werte sind mir wichtig, welche Geschichten sollen erzählt werden und was verbindet uns in diesem neuen WIR?

Es sind die grundlegenden Fragen, die junge Familien berühren: sowohl die biologische als auch die erweiterte Lebens- und Erziehungsgemeinschaft. Und die lassen sich wie alle „letzten großen“ Dinge unseres Lebens eben nicht mit mehr Handbüchern und Ressourcen klären. Man kann ihnen nur begegnen. Gemeinsam. Um ein gemeinschaftliches Gefühl fürs Leben und seinen wahren Wert zu entwickeln. Das ist dann wahre Potenzialentfaltung. Und eben keine Lückenbüßerarbeit.

Vielmehr Kunst. Lebenskunst. Für das Individuum. Die Familie und die Gemeinschaft. Und wer will auch die Nation.