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Liebe(r) konkret: Zeit für was Neues

>> Originalfassung eines Kolumnentextes für das Fortschrittsforum.de. Mit freundlicher Genehmigung der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Foto: David Shankbone (Eigenes Werk) [CC-BY-3.0], via Wikimedia Commons

Geschafft: Der Abschlussbericht des Fortschrittsforum ist veröffentlicht. Ein wahrer Kraftakt auf den letzten Metern mit einem grandiosen Finale: Fast 450 Kongressteilnehmer werden heute Abend auf ihr ganz persönliches Druckexemplar warten. Doch die 30-Seiten-Antwort auf die Leitfrage „Wie wollen wir leben“ ist nur die halbe Miete eines wertvollen Gesamtprozesses: Eine Gemeinschaft ist entstanden, die aller Unterschiede zum Trotz ganz konkrete Hoffnung erfahren hat auf eine Renaissance der partizipativen Demokratie.

Neue Zeiten erfordern neue Methoden. Sagt der Managermund. Manchmal steht ein billiger PR-Selbstzweck im Vordergrund. Manchmal jedoch ist es tatsächlich der Beginn von tiefgreifenden Kultur- und Strukturveränderungen. Wer wissen will, wo das Fortschrittsforum einzuordnen ist, sollte heute seinen Fokus auf die Minuten nach Präsentationsschluss richten: Stehen nach der großen Show auch nur zwei Menschen zusammen, denen Scheinwerferlicht nicht mehr so viel bedeutet, dafür aber das gemeinsame Entwickeln von neuen Perspektiven unglaublich viel Freude schenkt, ist das Experiment „Collective Action“ gelungen und mit dem amerikanischen Soziologen Clay Shirky die deutsche Gesellschaft reif für grundlegende Veränderungen; „Here comes everybody. Revolution does not happen when society adopts new technology, it happens when society adopts new behaviors.“

Denn diese beiden werden, wenn sie es nicht schon längst getan haben, ihre E-Mail-Adressen austauschen, gemeinsame Interessenslagen ausloten und gemeinsam mit anderen Mitstreitern eine neue intentionale Gemeinschaft gründen. Unabhängig vom offiziellen Fortbestehen des Fortschrittforums und anderen bestehenden Institutionen mit ihren offenen oder verdeckten Handlungsaufträgen und Mandanten. Genau das sind die wahren Früchte einer kulturellen Plattenverschiebung im Grundgefüge unseres Miteinanders. Hier werden authentische Herzensanliegen von Individuen, die früher vordergründig im Privaten ausgelebt worden sind, im neuen (Social)Netzwerk skaliert und zur Herzenssache einer größeren Gruppe. Ungeplant – aber extremst gut koordiniert. Und hier liegt der Ansatz jeglicher Überlegung von sogenannten Governance-Prozessen von Transformationsgesellschaften in sogenannten Flip-Flop-Zeiten, oder zu Deutsch: die Lösung für den materiellen, geistigen und emotionalen Infrastrukturumbau unserer Gemeinschaft von einer Untertanen- in eine wahrhaft erwachsene Gesellschaft. Die freiwillige Zusammenarbeit von Menschen, die auf Grund ihres Milieus, ihrer Vergangenheit, ihres Berufes, ihres Geschlechtes, ihres Bildungsgrades und ihrer Herkunft eigentlich nicht zusammenkommen würden, in neuen Gruppen mit neuen Arbeitsmethoden, um gemeinsam gesellschaftliche Veränderungen zu schaffen.

Das war mal Aufgabe von Parteien bzw. den Organen der repräsentativen Demokratie. Doch hier findet schon lange nicht mehr der ganzheitliche Legitimationsprozess statt, der notwendig ist, um die Mehrheit unserer Gesellschaft für grundlegende Veränderungen mitzunehmen. Zwar verfügen sie über eine juristische und damit materielle Legitimation. Die Lufthoheit über den geistigen Diskurs und die Kraft der Emotionen sind hier jedoch schon lange nicht mehr zu Hause.

Kein Wunder also, dass die Debatte über die Frage, wie wir als Gesellschaft leben wollen, von den Parlamentarieren zunächst in eine Enquetekommission Wirtschaft, Wachstum und Wohlstand übertragen worden ist mit externen Experten. Und diese wiederum wurde von anderen Gruppen der Zivilgesellschaft beraten: Unser Fortschrittsforum war eine davon. Hervorgegangen aus einer Initiative von klassischen Politikakteuren – Friedrich-Ebert-Stiftung, Hans-Böckler-Stiftung, Otto-Brenner-Stiftung – sollte hier ein soziales Großgruppenexperiment stattfinden: 100 Experten aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Bildung und Kultur hatten gut zwei Jahre Zeit, gemeinsam über die Handlungsagenda der Enquetekommission nachzudenken, ein Bild von einer lebenswerten Zukunft zu entwickeln und Input zu geben. An materiellen und geistigen Ressourcen mangelte es nicht. Ganz im Gegenteil: Es herrschte eine eigenartige Aufbruchsstimmung damals im Herbst 2011, als das Fortschrittsforum unter der Leitung von Prof. Dr. Jutta Allmendinger, Angie Gifford und Prof. Dr. Ernst-Ulrich von Weizäcker in der Landervertretung von NRW zur konstituierenden Sitzung zusammen kam. Große Hoffnungen erregten die Teilnehmer. Geld, Zeit, Experten und eine Arbeitsplattform im Web standen bereit, um auf dem Weg der „Postmanagerial organization“ (Clay Shirky) neues Wissen zu generieren und eine neue Art der zivilgesellschaftlichen Politikberatung auszutesten. Doch auf dem Weg zur Knowledgefrischzellenkur für den im eigenen Saft schmorenden Politikkörper musste der moderne Social-Network-Dreiklang „Teilen. Kooperieren. Kollektiv aktivieren.“ gemeistert werden. Eine Herausforderung, die den meisten Top-Down-geprägten Fortschrittsforumsteilnehmer einige Schweißperlen auf die Stirn zauberte. War das Teilen von Dokumenten und Quellen noch einigermaßen einfach, weil zentral über die Stiftung organisiert, erwies sich das Kooperationsgebot schon als Lackmustest für die wahre Intention der Teilnehmer: Um was geht es hier eigentlich wirklich beim Fortschrittsforum? Um meine eigene Positionierung und eine neue Präsentationsplattform für meine Person, meine Thesen, meine Institution? Oder um etwas Größeres, nämlich die einzigartige Gelegenheit, ohne Finanzierungssorgen Visionen für eine Gesellschaft von morgen zu entwickeln. Dies hätte jedoch für jeden einzelnen Experten bedeutet, aus seinem Solitärstatus mit persönlichen und institutionellen Handlungsaufträgen herauszutreten und einer von vielen zu werden in einem Prozess, der von Freiheit bestimmt war.
Für viele war dies leider schon eine Hürde zuviel: „Aufgabe des individuellen Zielkorridores und das Vertrauen in einen offenen, generischen Gruppenprozess? Das geht schon bei den Piraten schief. Warum sollte das beim Fortschrittsforum funktionieren.“ Die Folge: Experten machen, was sie schon immer gemacht haben. Sie bringen ihre Stellungnahme zu ihren Themen ein. Ohne jedoch wirklich mit den anderen inhaltlich, emotional und strukturell in Berühung zu kommen.

Doch es waren die Jahre der Finanzkrise, eines dauerhaften Vertrauensverlustes in jeden und alles und das Erstarken von Graswurzelbewegungen wie Occupy. Während „die da draußen“ in ihren Zeltcamps Lieder sangen, wälzten wir „da drinnen“ Studien und Papiere und waren irgendwie neidisch auf den Handlungsdruck, den die Aktivisten mit der Gitarre ausübten: „Wir sollten nicht vergessen: Wenn es die da draußen nicht gäbe, würde uns niemand zuhören.“ Wir mit Plan und die ohne Plan aber Koordination waren auf einmal irgendwie eine Einheit. Teil der Geschichte. Zumindest gefühlt. Jeder an seinem Platz. Und das führte zumindest bei einigen von uns Fortschrittgeweihten zum rational belächelten Zustand des naiven Träumens von besseren Zeiten. Nicht nur während der Arbeitssitzungen, sondern auch Zwischendurch. An Abenden. An Biertheken. In Clubs und Lounges. Hier wurde die Hoffnung auf ein „Mehr Miteinander wagen“ geboren. Milieugrenzenübergreifend. Indikatoren- und zahlenvernachlässigend. Aber mit brennendem Herzen.

Das war das, was ursprünglich mal Politik gewesen sein soll. Haben uns zumindestens Ältere gesagt. Das leidenschaftliche Erörtern von Lebensoptionen. Mit der ganzen Wucht der eigenen Person. Klar, dass damit der Streit in die ansonsten eher wissenschaftlich-nüchterne Debatte Einzug erhielt. Doch mit dem Streit kam die Liebe zum Thema. Und die überwand dann schlußendlich auch die größten Schweigeperioden der Expertenpartnerschaft auf Zeit.

Für die einen mag das Abschluspapier ein dünner Kompromiss eigentlich unversönlicher Geister sein. Nette Rhetorik ohne politische Durchschlagskraft. Doch die Wahrheit schimmert wie immer zwischen den Zeilen hindurch. Der Traum eines gelingendes Leben in ökologischer sozialer und ökonomischer Nachhaltigkeit im 21. Jahrhundert hat Gestalt angenommen und Besitz ergriffen von so manchem Experten.

Er ist gekommen, um zu bleiben und Hoffnung zu schenken.
Eben ein Fortschrittstraum.