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Liebe(r) konkret: Ampel auf rot

Originalfassung einer Kolumne des www.fortschrittforum.de

Die Enquete-Kommission hat vorgelegt. Einen umfangreichen Gruppenbericht mit einem noch umfangreicheren Indikatorenset. Keine Fast-Food-Kost, findet unser Kolumnist Sven Schlebes. Leider, denn damit wird die Suche nach Klarheit und die Einordnung in einen größeren Sinnzusammenhang nicht einfacher.

Zugegeben: Diese Kolumne schreibt ein typischer Vertreter des sogenannten jungbürgerlichgroßstädtischen Kreativrandphänomenes (Hans-Ulrich Wehler, Die neue deutsche Umverteilung) mit einem ausgeprägten Hang zur Doppelmoral. Ich predige einen ganzheitlichnachhaltigen Lebenswandel, mache dann eben doch meine Pause vom Gutsein-Alltag im Fastfoodrestaurant mit den Goldenen Bögen. Ein echter „Urlaub vom Ich“ halt. Oft sind solche Minuten ja die beste Zeit im Leben. Aha-Erlebnisse garantiert.

So passiert letzte Woche nach einem sogenannten Innovationsworkshop zum Thema „Grünes Büro“: Ermattet von CO2-Fußabdrücken-Debatten im Kopf stapfe ich durch den nassen Schnee zur örtlichen Fastfoodfiliale mit Quick-Win-Garantie für den hängenden Magen und einen angebrochenen Feierabend. Bis hierhin sind meine zurückliegende Fußspur noch blütenweiß. Mit dem Eintreten in die klimatisierte Burgerwelt werden sie dreckglitschig.

Zum Glück ist die Schlange klein, so dass ich direkt freundlich begrüßt werde: „Herzlich willkommen. Was darf es für Sie sein?“ Wir haben gerade Western Wochen. Zu Auswahl stehen: zwei Burgermenüs, eine gemeinsame Geschichte. Genau die Art von Freiheit, nach der sich Möchtegern-Cowboys wie ich nach einem langen Arbeitstag in symmetrisch-partizipativen Stakeholderprozessen sehnen. Einfach und klar: „Links oder rechts. Für Hier oder Zum Mitnehmen. Mit Ketchup oder Mayo.“ Punktum. Aus. Ich nehme das rechte Menü. Das linke hatte ich gestern.

Welche Farbe wohl eine Nährwertampel für meinen Burger anzeigen würde? Dunkelrot, nehm ich an. Wie seine Pappverpackung. Mehr Fett als für einen gesunden Großstadtbürger an einem ganzen Tag erlaubt. Ca. 800 Kalorien. Konsequenter Weise hieße das, ich müsste mich danach eine Stunde lang Zumba hingeben, um Figur und Gesundheit zu erhalten. So weit, so gut. Dann wüsste ich natürlich immer nichts über den ökologischen Fußabdruck des Produktes. Über den Umgang mit den Tieren und Pflanzen, die hierfür ihr Leben lassen mussten. Ihre Aufzucht, Ernährung und Behandlung. Und was mir die Ampel auch nicht verriete: Über die Arbeitsbedingungen der Menschen, die in diese Supply-Chain-Produktion eingebettet sind. Ihre Bildung, ihre Entlohnung, ihre emotionale und körperliche Verfassung, ihre Partizipation am Produktionskreislauf – alles bleibt im Dunkeln. Ob sich andere Gäste im Restaurant diesen Burger leisten können? Gehöre ich zu einer Elitenschicht mit einem Elitenprodukt, oder handelt es sich hierbei um ein Durchschnittsprodukt, das sich die überwiegende Mehrzahl der Gäste in diesem Laden erlauben kann? Ist dieser Westernburger ein sozial-moralisch-ökologisch korrektes, Wohlstand,Wohlfahrt und Glück schenkendes Produkt?

Zum Glück gibt es da ja jetzt dieses vom Expertengremium der Enquete-Kommission vorgeschlagene Indikatorenset. Es misst so allerhand und zeigt an, ob wir als Gesellschaft auf dem richtigen Weg sind. Würde es mir helfen, das Leben und mich besser zu verstehen? Selbstverständlich ist dies eine rein hypothetische Frage. Denn um alle Kategorien und Warnlampen der neuen 10 Leitindikatoren abdrucken zu können, müsste ich das ganze Menütablet- Papierset zur Verfügung haben. Und selbst dann würde mir der Abdruck aller Zahlen immer noch nicht bei der konkreten Kaufentscheidung weiterhelfen. Um die Quellen der Zahlen, die richtige Berechnung und die Aussagekraft in Gänze qualifiziert einschätzen zu können, bräuchte ich einen Übersetzer. Jemanden, dem ich vertraue, der den totalen Durchblick hat, mein Leben kennt und mir daher ernsthaft etwas raten kann. Ein Trainer oder Coach halt. In Zeiten des lebenslangen Lernens, der tagtäglichen Unübersichtlichkeit und Dauerüberforderung die unschlagbare Allzweckwaffe. Denn einfach, so wie das BIP zum Beispiel, war gestern. BIP rauf hieß: „Gut für alle. Gut für mich.“ BIP runter hieß: „Schlecht für alle. Schlecht für mich.“ So war das lange Zeit. Bis es nicht mehr stimmte. Heute ist da zum Glück mehr Differenzierung gefragt. Aber wenn ich ehrlich bin, sollte mein Trainer ja bloß auch nur eines sagen: „Iss! Und freu‘ dich des Lebens.“ Dafür würde ich ihn lieben.

Früher hat dies das Produkt mal selbst getan. Oder zumindest die Werbung. Seine Geschichte. Die vom Western, der Freiheit und dem ursprünglich-wilden Geschmack. Doch dann verloren wir alle unsere Unschuld und dieser Burger war nicht mehr der Burger, sondern die Spitze eines dreckigen Eisberges. Wir begannen dem Burger in seinem fettigen Stillleben zu misstrauen und neuen Siegeln und Indikatoren zu vertrauen. Bis im Burger Pferdefleisch auftauchte und auch die Siegelwelt endültig in Lord Valdemords Einflussgebiet versank. Und mit ihr die Hoffnung auf ein klare und einfache Handlungsanweisung für Umwelt, Mitmensch, Gesellschaft und eigenen Körper gerecht werdenden und zugleich Glück schenkenden Konsumakt.

Denn um genau das geht es doch, wenn wir ehrlich sind. Was berührt mich sonst ein Indikatorenset, wenn es keinen klaren und eindeutigen Bezug zu meinem konkreten Leben hat? Und genau das ist das Kernproblem des neuen Indikatorensets, so klug ausgefeilt und differenziert es auch immer sein mag. Es macht aus einer starken, einfachen, öffentlichen BIPIdentifikationsgeschichte ein Diagnosetool für Fachexperten ohne Leitgeschichte und damit Transferriemen zum Leben des Einzelnen. Was ist das denn für ein Leben, das wir führen, wenn alle Lampen auf „Grün“ stehen? Und in was für eine Identifikationsgeschichte ist dieses Leben eingebunden? Ist es ein Leben in bunter Vielfalt oder vorgegebener aber politisch korrekter Einfalt? Was für ein Werte- und Sinnset transportiert dieser Toolkoffer? Welches Menschen- und Weltbild? Und haben wir uns alle darüber schon ausgetauscht, oder ist die Wahlfreiheit angesichts zahlreicher objektiv gegebener Grenzen eingeschränkt?

Kurzum: Sind ich und mein Burger gemäß Indikatoren gut oder schlecht für den Wohlstand unserer Gesellschaft? Wenn ich ehrlich bin, interessiert mich das an Abenden wie diesen nicht wirklich. Denn da bin ich zu müde, zu abgespannt, zu eindimensional. Also eigentlich unfähig, um verantwortungsbewusst die Handlkungsmacht als Käufer und Wähler und Gesellschaftskreateur wahrzunehmen – für mich, für andere, für die ganze Welt.

Aber das Private ist im 21. Jahrhundert immer auch Politik. Denn es geht um das Große und Ganze. Um die Partizipation. Die Umgestaltung. Ein neues Bu(e)rger-Bewusstsein.

Das ist harte Arbeit. Absolut notwendig. Keine Frage. Und ich befürchte, bis aus dem Indikatorenset ein lachender oder weinender Smiley auf meinem Burger geworden ist, muss ich noch viele unsaubere Fußstapfen auf unserer schönen Welt hinterlassen. Dabei will ich eigentlich nur eines: „Essen und sich des Lebens freuen.“ Aber eben mit Moral. Damit nicht nur Brecht seine umkehrende Erlösung findet, sondern unsere Welt ebenfalls.

Foto: (c) von Staszewski (Eigenes Werk) [CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0) oder GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html)], via Wikimedia Commons