Liebe(r) konkret: Ungleich reizvoll!
>> Originalffassung eines Textes für www.fortschrittsforum.de.
Ungleichheit zerstört das Miteinander einer Gemeinschaft behauptet der Gerechtigkeitsdiskurs in Zeiten des geschönten Armutsberichts. Gleichheit beschneidet die Lebendigkeit, argumentiert unser Kolumnist Sven Schlebes. Ein Plädoyer für das ungleiche Andere im neuen Wir.
Verstehen kann ich es ja: Dass es meine Erzieher-Bekannte nervt, wenn ihre Kita-Schützlinge mit dem SUV vorgefahren kommen und deren Eltern das Klagelied der gestiegenen Biowürstchenpreise im grünen Einkaufsparadies singen. Während sie die ausgewogene Ernährung ihre Kleinstfamilie in Discounterhallen sichern muss. Als selbstempfundene Dienstmagd einer neuen Ökoelite mit typisch bürgerlicher Doppelmoral, die sich in bester Nachfolge des wilhelminischen Bildungsbürgertums Heerscharen von schwarzbeschäftigten Putzfrauen und Kindermädchen hält, um am Abend auf dem italienischen Designersofa nach der Fair-Trade-gelabelten Sushiorgie ermattet in den Schlaf der nachhaltig Gerechten und finanziell Geretteten zu fallen. Das schmerzt. Keine Frage.
Und der Preis der Ungleichheit ist hoch und es zahlen vor allem diejenigen, die am wenigsten dafür können: die Kinder. Situativ: Wenn die Erzieherlaune ein Ablassventil für die Sozialspannung sucht und strukturell, wenn die nachhaltigen Allradantriebseltern schon bei der Auswahl der Krabbelgruppe auf die institutionelle Anschlussfähigkeit der Bildungseinrichtung in Richtung Europaabitur achten und so die politisch gewollte Schülergleichheit in privat geförderte Alternativlosigkeit verwandeln.
Ungleichheit tut weh. Denn sie stellt die Frage nach der Gerechtigkeit und der Wertigkeit des eigenen (Berufs-)Lebens. Und sie weckt tiefe Gefühle, die niemand gerne an sich entdeckt: Neid, Kleinheit, Missgunst, Ohnmacht.
Doch ich habe in diesem Jahr eine persönliche Erfahrung gemacht, die mich still werden lässt. Vor allem in Tagen von St. Nikolaus und St. Martin: Dass es die Ungleichheit zu sein scheint, die Menschen und Dinge in Bewegung setzt. Die Geschichten erzählt. Die funktioniert. Und damit der wahre Preis für Veränderung zu sein scheint.
Mein persönlicher Augenöffner war eines dieser Seminare, in denen sogenannte Ypsiloner und Zettler ihre Zukunft in den Blick nehmen sollten, um Pläne zu entwickeln. Und über das sprachen, was sie antreibt. Offiziell. Und was ihnen die Kraft und die Lust nimmt. Inoffiziell. Zunächst hatte ich als Seminarleiter leichtes Spiel: Neue Medien; Neue Transparenz; Neue Unübersichtlichkeit der eigenen Lebensbereiche. Ein müdes Lächeln der Teilnehmer und der Wohlfühlkonsens für die kommenden Stunden war hergestellt. Doch als es um die konkrete Auswegkonstruktion in Eigenverantwortung ging, war Schluss mit der verständnisvollen WIR-Gemeinschaft der Nichtangekommenen. Suchten die Mädels in bester Shades-of-Grey-Manier nach der Hingabe in asymmetrischen Beziehungsmustern, um sich selbst zu entkommen, etwas vollkommen Neues zu erleben und im Fall des Scheitern dem Anderen die Schuld in die Schuhe zu schieben, forderten die Jungs vor allem nach einer Aufstiegsstruktur mit Orientierungs- und Gratifikationsoption, um persönliche Entwicklung inkorporiert fühlen zu können. Gerade im Vergleich zu anderen.
Ungleichheit als Antriebsmotor: Die Vertriebler der Versicherungsbranche und ihre Incentivwelt lassen grüßen. Seminarhighlight waren allerdings zwei Geschäftsmodelle, die jeweils auf einer freien Webcommunity aufgebaut waren. Während das eine ständig vom Aktivitätstod bedroht war, startet das das andere gerade richtig durch: Das Gründungsteam hatte die Webgemeinschaft in Teams eingeteilt, Rankings eingeführt, Belohnungssysteme entwickelt und so im besten kulturphilosophischen Sinne „Bedeutung“ erschaffen: durch die künstlich-formelle Erzeugung von Ungleichheit in einer amorphen Gleichheitsmasse. Aus einem gleichförmigen Follower-Grau wurde so auf einmal ein Mitläufer-Schwarz und Anführer-Weiß. Und das Verrückteste war: Es funktionierte. Unterscheidbarkeit erschuf Sichtbarkeit. Eindeutigkeit. Sicherheit. Und: Aktivität.
Ob meine Erzieher-Bekannte den unerreichbaren SUV-Eltern wohl auch sublime Gefühle entgegen bringt? Ich werde es nie erfahren. Was soll’s. Wir waren auf jeden Fall zusammen live im Stadion: Augsburg gegen Bayern. Eine ungleiche Partie. Aber eben mit einem ganz besonderen Reiz.