Liebe(r) konkret: Leben im Himbeerklang
Originaltext einer Auftragsarbeit für www.fortschrittsforum.de
Kunst kann, was wir Menschen im Alltag nur selten schaffen: Widersprüche und unterschiedliche Stimmen gelten zu lassen und doch harmonisch zusammenzufügen. Ein vorweihnachtliches Nachsinnen über die Entdeckung des inneren Künstlers und der Macht der spielerischen Kreation von unserem Kolumnist Sven Schlebes.
Da schreibe ich wochenlang von der Sehnsucht nach Streit und bekomme quasi als Antwort den Auftrag, unsere Agenturräume knapp eine Woche lang für einen Künstler aus Weissrussland zu öffnen. Als Special Guest für einen Kunstsalon. Vernissagetitel: Brutaler Sentimentalismus. Ein Motto wie für mich und diese Kolumne gemacht. An einem Donnerstagmorgen stand er dann auf einmal da in seiner Armeehose und mit einem Lächeln auf den Lippen. Seine Taschen waren vollgestopft mit Farben, LKW-Planen und halb angefangenen Bildern. Deutsch konnte er nicht. Und ich kein Russisch. So begann eine wortloser Begegnung in weißen Büroräumen, modernem Tanz nicht ganz unähnlich. Ok, ich hatte in einer meiner Kolumnen auch die totale Ruhe eingefordert, um die missbrauchte Sprache sterben zu lassen und zu einer ursprünglichen vordringen zu können. Doch das waren damals irgendwie auch nur Worte gewesen. Jetzt wurde es ernst. Und erst mal still im akustischen Sinne. Überraschender Weise fand jeder relativ schnell seinen neuen Platz und führte sein Tagwerk fort. Für ihn sollte es auch ein Nachtwerk werden.Auf der basalen Ebene der Kreation, dort, wo das Neue geschaffen wird, funktioniert das Leben also auch ohne Worte. Und ohne Tageslicht. Im Dunkeln eben. Am nächsten Tag hing ein großes Bild in Goldgelb getaucht an der Wand. Ein großes Gesicht war darauf zu sehen, Felder, Menschen, unzählige Symbole und: die Sonne. Gegen Mittag erschien dann endlich auch einer, der übersetzen konnte. Und einen tiefen Einblick in das Leben einer russischen Seele offenbarte: Das Bild hieß Himbeerklang. Ein Sprachidiom, das auf den magischen Zeitmoment an Ostern verweist, an dem das ganze Land, alle Menschen, Tiere und Dinge in das Ostergeläut der Kirchenglocken getaucht sind. Eingebettet in in eine Harmonie, die alles gelten lässt, jedem sanft seinem Platz zuweist und an Zuhause erinnert. Vereint. In Frieden. Eine Erinnerung an gute Zeiten – in der Vergangenheit und einer noch utopischen Zukunft.
Als einige Stunden später junge Studenten ein Seminar zur beruflichen Orientierung in dem Raum abhielten und ebenfalls die Geschichte des Bilder erzählt bekamen, flossen Tränen. Dem einen hatte die Bank den privaten Studienkredit gekündigt: Aus Mangel an einer erkennbaren Eindeutigkeit der Studienbemühungen im Leben: Lebenslaufdisharmonie. Die andere kämpfte seit Jahren mit ihren Eltern um Anerkennung ihrer verschiedenen Talente und das Bedürfnis, möglichst vielem Raum zu geben. Doch das Abstimmen vieler innerer Glocken erfordert eben Zeit. Und die geben Menschen, die ihr Leben lang nur auf das Spiel mit einer Glocke gesetzt haben, selten. Ganz im Gegenteil: Ihr Schmerz angesichts der neuen für sie unerreichbaren Vielfältigkeit lässt sie harsch und unerbittlich werden. Am intensivsten reagierten die Teilnehmer auf das Bild, deren Familien unterschiedliche kulturelle Wurzeln hatten. Jeder Kulturkreis hatte seine eigene Melodie und Klangfarbe. Eine sogenannte Leadstimme war nicht zu erkennen. Bloß ein gemeinsames Thema: Die flehentliche Bitte nach Anerkennung, Wertschätzung und innerer Verbindung.
Himbeerklang, das wurde auf einmal zum Synonym für innere Integration, Frieden, Stimmigkeit, Heimat, Gemeinschaft, Verständnis: das große Ankommen im großen Chor.. Eigentlich hatte ich nach dem Jahr im Fortschrittsforum gedacht, dass niemand diesen großen Chor mehr will. Allein die Vorstellung davon, einem Dirigenten freiwillig zu folgen und sich einer Melodie zur Verfügung zu stellen, treibt so ziemlichen jeden, den ich kenne, auf die Barrikaden: von Neoliberalen über Feministinnen bis hin zu Migrantenvertretern. Mich selbst eingeschlossen. Und doch zahlen wir alle dafür einen großen Preis: zunehmende Einsamkeit und eine Überforderung im überbordenden Identitätsdauerkampf.
Vielleicht verlangt die Zeit aktuell nicht nach einem großen Himbeerklang. Vielleicht wäre er sogar kontraproduktiv. Denn erst mit zunehmender Disharmonie im Außen nimmt die Bereitschaft bei uns Menschen bekannter Maßen zu, mit der eigenen Diversity zu beginnen. Dem eigenen inneren Chaos. Laut einer Postkartenweisheit immerhin der Ursprungsort neuer Sterne. Um so zuerst einmal den inneren Himbeerklang zum Leben zu erwecken und damit andere Menschen zu erfreuen.
Klingt nach Weihnachtsmarktomantik mit Glühweinnebel?
Mag sein. Auf jeden Fall sehe ich schon die Sterne.
Bild: Himbeerklag, Aljaksandr Verashchahin. Privatbesitz. Informationen über Belarus Salon (Facebook).