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Lieber konkret: Be primitive!

Angeblich ist Deutschland eine Rüpelrepublik. Sagt das Feuilleton. Dabei haben wir noch nicht mal angefangen, richtig zu streiten. Sagt unser Kolumnist Sven Schlebes. Aus Angst vor dem eigenen aufgestauten Hass. Zeit, die Wunden mal richtig aufzustechen und den Eiter abfließen zu lassen.

Machen wir uns nichts vor: Die Monate ziehen ins Land und wirklich Grundlegendes hat sich nicht getan. Das mit Spannung erwartete Jahr der Großgruppendebatten 2012 war vor allem eines: großes Theater. Aber eben kein großartiges. Es wurde viel geredet und meistens Altes aufgewärmt. Aber eben kaum Neues geboren. Denn dafür müssten die Menschen wirklich zusammenkommen und bereit sein, sich aufeinander einzulassen. Das Gegenteil ist aber der Fall. Wies noch zu Jahresbeginn das Sinus-Institut bei der Präsentation seiner Studie für das Jahr 2012 darauf hin, dass die millieuartige Erfassung unserer Gesellschaft immer schwieriger werde, da sich kaum mehr sinnvolle Definitionsgrößen für eine Subkultur finden lasse, zeigt sich am Jahresende im Diskursverhalten, dass die Grenzen allen Prognosen zum Trotz wieder undurchlässiger werden. Auch wenn im Vorfeld des Wahljahres 2012 gerne ein Schönwetterbild unseres Nahe-an-der-Vollbeschäftigung-Landes gezeichnet wird, zeigt das Hineinhören zwischen die Zeilen des PR-Hochglanz-Diskurses Symptome einer Supernova: Helles Leuchten vor dem Zusammenfall. Ich weiß, diese Untergangsprophetie ist ganz furchtbar und nervt mittlerweile alle. Mich eingeschlossen. Aber Fakt ist: Es geht den meisten Menschen um Selbstbestätigung und gegenseitige Anerkennung. Nicht um die gemeinsame Überwindung bzw. Neuerfindung. Und wenn die Anerkennung ausbleibt, wird sanktioniert: Ebenfalls mit Aufmerksamkeits- und Liebesentzung. Eine doppelte Null-Lösung. Identität wird am Ende des Jahres verstärkt innerhalb der eigenen Milieugrenzen gebildet. Der Brückenaufbau zu anderen Milieus hat keine Priorität mehr. Denn eigentlich ist es eh egal, was die anderen sagen: „Mir san mir.“ Und so sitzen dann da all‘ die ganzen hochdekorierten und hochbezahlten Eliten aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft nebeneinander und haben sich letztendlich nichts zu sagen. Nicht, weil sie keine Botschaft hätten. Sondern weil sie es aufgegeben haben, um das Verständnis der anderen zu werben. Und noch viel schlimmer: Weil den meisten Heroen des Geistes schlicht die Herzensbildung fehlt, um miteinander in Berührung zu kommen. Einfach so. Die einen haben zwar die neuste Technologietechik, haben aber nie das weite Spektrum der Sozialtechnik kennengelernt. Sie waren halt immer im falschen Kaufhaus einkaufen und funktionieren mittlerweile selbst wie alte Fernsehgeräte: „An. Aus. Laut. Leise.“ Dass es unendlich viele Möglichkeiten dazwischen gibt, miteinander zu kommunizieren, ist für sie ein Märchen aus einem fernen Paradies. Und die anderen haben schlichtweg keine Lust, in die Niederungen einer richtigen Auseinandersetzung zu gehen. Das mag angeblich der Wähler nicht. Das ist ein Zeichen von mangelnder Durchsetzungskraft und fehlender Autorität. Und es ist alles nicht politisch korrekt. Offen geredet wird dann aber offline. In den übelsten Tönen. Über den anderen. Nach einem Jahr intensiver Debatten behaupte ich in Analogie zur Rechtsextremismus-Studie der FES, dass nicht nur jeder Fünfte Deutsche ein geschlossenes rechtsradikales Weltbild hat. Ich glaube, über 90% der Deutschen haben ein an sich geschlossenes Weltbild, das nicht mehr anschlussfähig ist. Das heißt nicht, dass unser schönes System nicht funktionieren würde. Da rattern alle wie geölte Räder schön weiter und produzieren Überschüsse noch und nöcher. Der Psychologe kennt dieses normierte und sozial-emotional verödete 10%-Miteinander als nahrhafte Frucht eines passiv-aggressiven Grundcharakters. Geschluckt wird alles. Doch irgendwann setzt der Fäulnissprozess ein und eine schleichende Vergiftung beginnt. Ich habe noch nie so viel destillierten Hass angetroffen wie in diesem Jahr: Der Unfriede mit der deutschen Einheit, mit den Migranten, mit dem 11. September, den Börsenblasen, dem Euro, dem Internet, dem Atomausstieg, mit Europa, mit China, der Generation Y. Ach: Einfach mit allem. Nur offen ausgetragen wird der Disput nicht. Sondern es wird alles mit sich alleine ausgemacht. Bis man voller kultureller Eiterblasen dasitzt und sich wundert, warum jede Berührung so unendlich Schmerzen bereitet. Doch Davonrennen hilft nicht. Es gibt ein schönes Sprachbild bei uns Herzschmerz-Esos: Menschen sind Engel mit nur einem Flügel. Wer fliegen will, muss sich umarmen. Ich modifiziere das mal und behaupte, dass wir uns gegenseitig zum Wundenaufstechen brauchen, damit ein Gesundungsprozess einsetzen kann. Aber wer beherrscht schon den ritterlichen Umgang mit einem scharfen Schwert? Es muss ja nicht immer ein Säbel sein. Für uns Geistesästheten darf es dann auch schon mal ein Florett sein. Wichtig ist, dass wir unsere stinkende Komfortzone verlassen und einfach zu allererst mal wieder Mensch werden. Das mag die in lebenslangen, unendlich mühevollen und teuren akademischen Lernprozessen aufgepimpten Geister beschämen, wie unlängst die Teilnehmer eines Londoner High-Potential-Think Tanks anlässlich eines Gespräches mit dem Dalai Lama zugaben. Das Mensch sein und Berührt-werden. Alles zu simpel. Angesichts der Komplexität.
Doch es ist der einzige Weg raus aus der Sozialverkümmerung.

Raus aus der sprachlosen Stagnation. Rein in den Eiter-Fluss.
Es könnte alles so einfach sein. Ist es aber nicht. (Fanta4)