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Liebe(r) konkret 20: Das geschändete Wort

Am Anfang war die Stille. Dann kam das Wort. Und erschuf die Welt, den Menschen und noch mehr Wörter. Die heute jedoch nichts mehr erschaffen. Denn wie modernes Saatgut keimen sie nur noch unter Lizenz für einen monetären Zweck. Danach sterben sie ab. Zeit für eine Rehumierung der Erbgutwörter, findet Kolumnist Sven Schlebes.

Es geschah auf einer Konferenz. Wo auch sonst in diesen Tagen. Ein Podiumsteilnehmer steht auf und weigert sich, fortan das Wort „Nachhaltigkeit“ in den Mund zu nehmen. Denn mit der Nachhaltigkeitswoche einer großen Lebensmittelkette und Klebebildchen in Tüten unter Fähnchen sei nun der letzte Rest Würde des Wortes gestorben. Stille im Saal. Einige Zuschauer klatschen. Die Moderatoren zucken unruhig mit den Schultern. Nachhaltigkeit, das war das Podiumsthema des Abends. Da steht noch einer vom Podium auf und ruft: „Ganzheitlichkeit. Auch tot.“ Gemurmel im Saal. Und dann wird’s turbulent: „Vertrauen. Zukunft. Die Menschen. Bildung. Verantwortung. Liebe. Freude. Glück. Wir müssen. Zusammen. Leistung. Werte. Vielfalt. Loslassen. Bewusstsein, Achtsamkeit. Transparenz. Klima. Bio. Geld. Sicherheit.“
Eine Wirtschaftsveranstaltung entwickelt sich zum Buzzwörter-Scheiterhaufen der modernen Welt. Nach dem Tumult kehrt Stille ein. Eine Trauerveranstaltung für Gescheiterte. Wörter, Ideen und Menschen. Zu Tode benutzt im Wanna-Be-Style: So tun, als ob aber ohne Risiken und Nebenwirkungen. Fast wie safer sex. Nur dass hier die Samen auch schon tot waren, bevor sie im PR-Reservoir mit Keimtötungs-Vermarktungsgeblubber ihr Ende fanden.
Mit der Veranstaltung war’s übrigens auch vorbei. Zu tief saß die flashartige Enttäuschung bei den Anwesenden über die missbrauchte Allgegenwart von Schlüsselwörter als Neonsternchen auf dem PR-Strich. Der kulturelle Krieg um die Deutungshoheit von Bild- und Sprachsymbolen folgt denselben Regeln wie der Krieg um Ländereien und Ressourcenstätten: Wer wirklich siegen will, demütigt den Gegner mit einer Vergewaltigungsarie und zeigt, wer hier der Herr im Hause ist. So ist das grausame Sitte auf den Schlachtfeldern dieser Erde. Und diesmal sind die Wörter dran. Versicherungen verstehen auf einmal – die Gier nach Sicherheit und nach Fleisch. Autos sind auf einmal alle Weiß, effizient und damit Zukunft – im Allradantrieb. Und Vertrauen ist das wichtigste bei einer langfristigen Beziehung, sagt der CEO der Zukunft am Neujahrstag – bis zur nächsten Beförderung. Dann ist ein anderer Trottel dran mit dem Näheversprechen. Garantiert aus deiner Region.
Es gibt kaum ein Wort mehr, das nicht unter dem Generalverdacht der arglistigen Täuschung und des narzistischen Selbstbetruges steht. Und sei es noch so schön. Kommunikation selbst ist meistens Kommunikation, um nicht kommunizieren zu müssen. Defensivkommunikation mit Beteuerungsfunktion und ohne Kreationsaktion.
Was bleibt dem, der wirklich will? Freunde von mir, von denen ich lange nichts gehört habe, machen’s vor. Sie steigen aus den sogenannten „Sozialen Netzwerken“ aus und gehen den Weg der Großen und Mächtigen: Sie machen einfach. Und schaffen somit Fakten. Realpolitik. Ohne Worte. Für einen echten Neubeginn. Die einen heiraten still und leise. Und versenden dann per SMS ein schlichtes „JA“. Die anderen bekommen Kinder und schicken ein Foto. Selbst, wenn es gehörige Komplikationen gab. Und wieder andere kündigen ohne Vorwarnung und beginnen ein Leben auf dem Land.
Mittlerweile weiß ich: Wer in meinem Umfeld viel redet, bei dem bleibt noch Jahre alles beim Altem. Wo’s dagegen stille wird, ist eine Revolution im Gange. Vielleicht kommt nach „Slow food“ jetzt „Slow talk“. Denn auf die echte Essenz kommt es an. Und mit ein wenig Glück wird so nicht nur das eigene Leben wieder reichhaltiger, sondern auch die Worte erhalten in fangfreien Phasen ihren ursprünglichen Saft zurück.
Ökologische Semantik – ein wahres Fest für Liebhaber des Genusses.
Slow down und halt die Klappe!

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Creative Commons Lizenzvertrag

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Veröffentlicht auf: www.fortschrittsforum.de. Autoreneigenpublikation mit freundlicher Genehmigung der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Foto: (c) Alina Edged