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Liebe(r) konkret 18: Danke. Klasse. Tschüss!

Ein Danke befreit. Von allem, was war. Und öffnet die Tür zu dem, was ist. Und sei es tiefer Streit. Aber auch dafür sollten wir dankbar sein. Denn hier werden anscheinend die neuen Wir’s geboren, glaubt Fortschrittforums-Kolumnist Sven Schlebes.

Eigentlich wäre mal ein Danke angebracht. Für das Land, in dem ich lebe und das unsere Vorfahren aufgebaut haben. Materiell und immateriell. Ich hatte es mir fest vorgenommen, als ich bei meiner Zahnärztin in Berlin Mitte in der Horizontalen lag und ihrer Geschichte lauschte. Routinecheck. Sie: Eine Exiliranerin. Extremst schön. Extremst frei. Und daher extremst weit weg von Zuhause. Dort drohte ihr nämlich in der Vergangenheit die Auspeitschung. Ihr Vergehen: Sie hatte einen männlichen Verwandten am Flughafen in Teheran umarmt. Mit Glück ist sie rausgekommen und kann sich so unter anderem um meine Zahnzwischenräume kümmern. Obwohl ich ihrer Geschichte nicht entnehmen konnte, ob genau das nun ihr größter Traum gewesen ist.
Am Abend drauf saß ich mit einem türkischen Umweltaktivisten aus Istanbul am Tisch. Sein Thema: Das Erdbebengebiet am Bosporus. Die gnadenlose Ausweitung der Stadt. Das Profitdenken. Die zahlreichen Absagen auf sein Stadtbegrünungsprogramm. Die Türkei als aufstrebende Mittelmacht hat gerade ganz andere Sorgen, als sich um Grasnarben und sauberes Gewässer zu kümmern. Zu uns stieß mein Coworking-Partner aus Weissrussland, ein Exilant, der uns in ein Gespräch über die Pussy Riots in Moskau und die Generation BY in Minsk verwickelte.
Drei Menschen, drei ganz andere Hintergründe und dreimal der Lebensmittelpunkt Deutschland. Genauer: Berlin. Denn hier können solche Gespräche geführt und Geschäftsmodelle entwickelt werden, die die Systemänderung im Paket haben. Ohne Gefahr für Leib, Leben und Familie. Hier kommt dir das Grünflächenamt sogar noch mit dem Preis für eine gesponsorte Baumscheibe entgegen. Und du kannst trotzdem dein Patenschild dranhängen.
Deutschland ist mein Land. Hier bin ich geboren. Ich durfte in den öffentlichen Kindergarten gehen, Schulen in privater Trägerschaft besuchen, Unmengen an Bücher lesen, den Unterricht mit Flugblattaktionen gegen Gott weiß was sprengen. Ich konnte mich während meiner Bundeswehrzeit mit einem Verweis auf meine Staatsbürgerschaft in Uniform gegen ein Disziplinarverfahren wehren, an der Uni noch mehr Bücher lesen, mit gestiftetem Geld noch viel mehr Bücher kaufen und auf Reisen gehen und zugleich immer Kritik üben und mich verweigern. Und ich bin trotzdem im Spiel geblieben. Ich habe das Auto meiner Eltern zerschrottet. Und sie haben sich doch mitten in der Nacht an der Unfallstelle mit mir auf die Straße gesetzt und das rauchend-blinkende Wrack bestaunt. Auch wenn das Geld für einen neuen erst mal fehlte. Ich hatte Depressionen. Jahrelang. Und die Krankenkasse zahlte meine Therapie.
Ja, ich lebe frei, bin frei aufgewachsen und konnte mich ausprobieren. Ich bin das Kind meiner Vorfahren. Unserer Vorfahren. Ich bin ihr Update. So wie Sie es ebenfalls sind. Sie stecken in uns. Wir sind ihre Verheißung. Irgendwie. Auch wenn sie das so nie sagen würden. So wie meine Kinder das Update von meiner Frau und mir sein werden.

Ich bin sehr viel sie. Haben Sie mal drüber nachgedacht, wieviel Eigenes wirklich in Ihnen steckt und nicht von anderen übernommen worden ist? Jedes Lied, Wort, Bild, Geste, Bewegung seit meiner Geburt kommt erst mal von Außen. Abgeschaut. Nachgemacht. Wie bei einer wissenschaftlichen Arbeit. Fremdwissen wird eingeschüttet. Vermixt. Was ist nun Sie selbst? Was ist wirklich selbst erfahren, entwickelt, zur Welt gebracht, ausgedrückt? Sauwenig!
Und deshalb sage ich vor allem: Danke! Für die Schätze und Möglichkeiten. Die Sicherheit. Die Umsorgung. Die Unterstützung. Die Freiheit. Für alles.

Das wollte ich sagen. Nicht nur virtuell. Sondern real. Und bin zurückgegangen. Ich wurde gefeiert wie ein verlorener Sohn. Bis zu dem Punkt, an dem ich mein Eigenes zeigen wollte. Minimales. Im Promillebereich. Aber etwas Neues. Das Produktionsergebnis all dieser ganzen Zutaten. Mögliche Verbesserungen. Und da war Schluß mit lustig. Denn auf Eigenes lässt sich anscheinend keine Gemeinschaft aufbauen. Sondern nur auf die ewige Repetition des schon Dagewesenen. Heldenverehrung in abgeschlossenen Hallen. Am besten im historistischen Sinne nachgeahmt. Nachempfunden. So tun, als ob. So fühlen, als ob. Denn das ist sicher. Und bereits common sense. Und es gibt Deutungshoheiten und Hohe Priester mit Deutungsmacht. Dass sich das Leben weiterentwickelt hat, ja nach einer kompletten Neuinterpretation geradezu schreit. Das wird ausgeblendet und jeder Versuch spöttisch abgewertet. Im Stillen. Denn da treffen sich die Zurückgebliebenen. Und sie wissen nicht, wie ihnen geschieht. Dass ihr freiheitliches Erbe alle marktwirtschaftlichen Konformität und Restriktion zum Trotz doch aufgeht. Und seltsame Blüten treibt. Zum Glück. Aber wer jetzt denkt, dass die Blüten begrüßt werden, irrt. Es sei denn, es ließe sich daraus ein verkaufbares Produkt machen. Geld ist immer ok. Noch mehr Geld – noch ok’er.
Aber Neuerungen im sozialtechnischen Bereich des Miteinander: No way. Eiszeit. Das Schweigen ist das Schweigen der Unzufriedenen, die sich zu schwach fühlen, um öffentlich Stellung zu beziehen. Das mussten sie nie. Das wurde für sie gemacht. Oder das, wofür sie einstanden, hat für sich gesprochen. Das ist heute anders. Aber sie sind viele. Sehr viele. In allen gesellschaftlichen Subsystemen. Dort haben sie ein Zuhause gefunden. Ein Zuhause, über das heute kontrovers diskutiert wird: Abreißen oder energieeffizient kernsanieren. Dann ist es aber nicht mehr ihr Zuhause. Und deshalb haben sie eine riesen Wut auf die, die nicht mehr das alte Hohelied singen, sondern es neu interpretieren. Aber sie bringen die Wut nicht zum Ausdruck. Sondern treffen sich in Hinterzimmern und schimpfen über die Entkernung von alles und jedem. Und warten auf Erlösung. Sie sind genauso ahnungslos. Und: Feige. Denn die offene Auseinandersetzung scheuen sie. Dafür gab’s früher die Öffentlichkeitsarbeiter. Sie haben nur gesagt, wo es langgeht. Oder eben mitgemacht.
Aber sie ahnen, dass sie selbst ganze Arbeit geleistet haben. Dass schon vorher alles entkernt war. Und eigentlich sind sie ein kleines bisschen stolz auf die neue Generation und ihr Gesellschaftsupdate. Weil sie wissen, dass die nächste Generation die ihnen gestellten Aufgaben lösen wird. Mit Bravour. Allen OECD-Studien zum Trotz. Denn die neue Generation hat bereits mit 30 Jahren mehr gelernt als die ältere bis zu ihrem Lebensende. Mehr Jobs erledigt, mehr Beziehungen erfahren, mehr Länder gesehen, mehr Sprachen gesprochen. Und mehr Fragen gestellt. Jetzt sind die Antworten dran. Unsere Antworten. Die haben aber nichts mehr mit Natursteinimitat im Laminatflur oder einem Schloßfassadenzitat in Erinnerung an bessere Zeiten zu tun. Sondern diese Antworten beginnen mit Nähe. Sie berühren. Keine Angst – wir gehen nicht. Wir kommen zurück. Und legen die Finger in die Wunde. Das tut weh. Streit ist vorprogrammiert. Aber mit Shoutrooms haben wir ebenfalls unsere Erfahrungen. Und auch dafür sind wir dankbar. Denn sich mit euch streiten und damit messen zu dürfen. Und am Ende zu gewinnen. Das ist für uns mittlerweile das Größte. Das ist eine Provokation? Wunderbar. Was das mit Liebe und Freiheit zu tun hat? Fragen Sie Aprodhite.

Und vergessen Sie nicht, Danke zu sagen!

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CC3.0: „Liebe(r) konkret: Mitte, bitte? Nein, danke!“ von Sven Schlebes steht unter einer Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Unported Lizenz. Beruht auf einem Inhalt unter http://sven.schlebes.net/2012/08/28/lieber-konkret-18-danke-klasse-tschuss/. Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie unter http://sven.schlebes.net/kontakt/ erhalten.
Veröffentlicht auf: www.fortschrittsforum.de. Autoreneigenpublikation mit freundlicher Genehmigung der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Foto: (c) Alina Edged