Liebe(r) konkret 16: Wer wagt, gewinnt!
// Musterartikel einer unveröffentlichten Kolumne für das www.fortschrittsforum.de
Dem Wir gehört die Zukunft. Vernetzt und auf gleicher Augenhöhe. Doch die neue Verbindlichkeit fordert den ganzen Menschen. Ansonsten ist die Begeisterung für die neue Gemeinschaftlichkeit schnell wieder abgeappt. Und das Wir damit am Ende. Dabei stehen wir doch gerade am Beginn von etwas ganz Wunderbaren. Findet unser Kolumnist Sven Schlebes.
Die Zeit der großen Systeme ist vorbei. Sagen die BWL und allen voran die Organisationspsychologie. Nach dem Zeitalter der Divisionsstruktur und dem Matrixfieber ist angeblich nun das Netzwerk angesagt. Für Jan. Für Judith. Und für Jedermann. Denn dass Netzwerk, so die Hoffnung, löst die Gravitationskerne alter Sphärenmodelle auf und schenkt die Freiheit des Partikels. Die gab es zwar schon immer, aber sie war den Menschen nicht aktiv bewusst. Das ist so ein bisschen wie mit der Quantenphysik und dem Newtonschen Apfel. Genaugenommen gibt es den Apfel nicht wirklich. Newton ebenso wenig und die Erde auch nicht. Sondern nur viel Unschärfe und Raum zwischen Aufenthaltswahrscheinlichkeiten von Kleinstteilchen. Auf der Mikroebene. Also nicht da, wo wir Menschen wohnen. Sondern in uns. Und um uns herum. Doch aus diesem Nichts wird vermengt mit ein bisschen Bewusstsein und einer Kraft, deren Ursache die Wissenschaft seit Neuestem dann doch wieder in Gott als Teilchen sehen, unsere Realität. Unsere Lebensvereinbarung.
Lange Rede, kurzer Sinn. Das Netzwerk war schon immer. Verbundenheit war schon immer. Was nicht war: Das Bewusstsein dafür – gewusst und gefühlt – und die Verständigung darüber, dass sie existieren und in Folge dessen auch gelebt werden.
Was nicht bewusst ist, hat meistens auch keine Bedeutung und ist damit nicht relevant für unser Leben. Und umgekehrt. Was heißt, dass nicht das Zeitalter der Systeme vorbei ist. Denn die hat es als vom Menschen unabhängige Entitäten ja nie wirklich gegeben. Auch wenn Juristen und Ökonomen und Staatswissenschaftler das gerne so hätten. Sondern eben nur als zwischenmenschliche Vereinbarung. Im Wahrscheinlichkeitsraum. Beispiel gefällig? Der Euro. Was zu Ende geht, ist eine gemeinschaftliche geteilte Wahrnehmung vom Leben auf einer Zoomebene. Und das tägliche Handeln auf genau dieser Ebene entsprechend den vereinbarten Spielregeln. Doch nicht nur die Naturwissenschaftler haben bessere Mikroskope und Teleskope bekommen. Auch wir Menschen. Wir verstehen uns auf der einen Seite als lebendig-interdependenten Teil einer Biosphäre und auf der anderen Seite erleben wir uns selbst als unsere tatsächliche Welt. Ein enormer Spannungsgrad. Und ja, auch Wirklichkeitswahrnehmung will trainiert werden. Und so ein Training ist das jetzt ausgerufene Netzwerkzeitalter. Quasi ein neues Übungsprogramm für den modernen Menschen und seine neuen Partnerschaften. In einer anderen Wirklichkeit. Einer aktuell echteren.
Wir zoomen mit unserem Aufmerksamkeit einfach näher ran und durchbrechen die als undurchdringbar angenommenen Grenzen besagter Systeme und Akteure. Und was sehen wir? Partikel in Aufenthaltswahrscheinlichkeiten, die miteinander in Beziehung stehen. Wir Menschen. In Gang gehalten von der ominösen Gottespartikelkraft und unserem Bewusstsein. Auf dieser neu gewählten Betrachtungsebene nimmt die Unschärfe zu und zentrale Begrifflichkeiten des Miteinanders werden neu betrachtet: Was ist Freiheit wirklich? Sicherheit? Gerechtigkeit? Neue-alte Problemhorizonte tauchen auf: Gleichheit, Optionalität und Kompatibilität. Denn auf dieser Mikroebene ist das Individuum König. Und der kann und will immer. Alles und mit jedem. So die Hoffnung der Netzwerkpropheten.
Einen neuen Namen hat er schon der frühere (Volks)genosse oder Mitbürger (in Uniform, im Blaumann, auf der Schulbank, im Bett): Komplize. Und sein Name ist Programm. Denn wer seine Tage (und Nächste) auf dieser Wahrnehmungsbene verbringen möchte, zwischen System und Individuum auf der Ebene der unscharfen Relationalität, lebt halt persönlich empfunden: wahrscheinlich. Das klingt böse. Nach Wirkungslosigkeit und einem verfehlten Leben des scheinbar Selbstbestimmten im Ungefähren. Doch es ist eine Bewusstseinsfrage.
Noch ignorieren Komplizen die Kraft des Gottesteilchens und wähnen sich in autarker Freiheit. Damit ist der Komplize eigentlich das logische Endprodukt der abendländischen Aufklärung. Und ein bisschen auch der von Nietzsche geforderte neue Mensch. Aber für den übermenschlichen Heroen ist der Komplize doch zu limitiert durch die Verbundenheit im Netzwerk. Was für Nietzsches Helden ein Problem sein mag, ist für den Netzwerkkomplizen Chance. Und für die Komplizenupdatevariante namens „Gefährte“ das Alicesche Einstiegsloch in eine neue Wunderwelt.
Denn Helden leben in Gemeinschaften. Einsam. Heldenhaft. Unberührt. Und aktuell eben vor allem in Kinoepen.
Komplizen leben mit Gemeinschaften. Auf Zeit. Mit Sicherheitsabstand. Kosten-Nutzenorientiert ganz im Sinne des Homo oeconomicus. Und damit vor allem in den Powerpointshows der Changecoaches.
Gefährten aber sind Gemeinschaften. Entschieden. Hingebend. Aufgehend. Und die leben – noch – in Partnerschaften im Verborgenen. Aber in unsere Realität. Einfach so.
Jeder echte Komplizen, den ich getroffen habe, gibt früher oder später dann eben doch jener Gottesteilchenkraft nach: Die Sehnsucht nach echter Gemeinschaft ist zu groß, als dass sie dauerhaft ignoriert werden kann. Und so entstehen nach und nach flächendeckend neue Kleinstgemeinschaften, die tägliche die neue Wunderwelt kreieren und leben. Das ist dann nicht mehr wahrscheinlich unscharf, sondern sicher da. In ganzer Klarheit. Und überraschend anders als vorher auf dem Konzeptpapier ausgedacht.
Den meisten Komplizen, die wirklich mal den Zoomsprung aus der Systemebene gewagt haben, fehlt häufig nur das weiße Kanninchen, das den neuen Weg weist. Und die notwendige Verrücktheit, einem in die neue Gemeinschaftswelt zu folgen, wenn es morgens auf der Wiese dann tatsächlich erscheint.
Woran sie erkennen, ob sie schon ver-rückt genug für den doppelten Ebenensprung sind?
Es ist dieses Kribbeln im Bauch.
Am besten ohne Brause.
Verliebt. Verlobt. Verheiratet.
Aber mit tut’s auch.
Wer wagt und gewinnt?
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