Liebe(r) konkret: Stunde Null
Krise total. Nach dem scheintoten Euro und den halbherzigen Lebern hat’s nun auch die garantiert edelmetallfreien Sportler erwischt. Katastrophen, wohin der Deutsche sieht. Der scheinbar einzige Ausweg: der große Knall. Ein Kind des Sommerlochs oder eben doch ein ganz großer Fall?
Veröffentlicht auf: www.fortschrittsforum.de
Wir hatten Besuch. Meine Tochter und ich. Auf dem Spielplatz. Mitten in der KiLa-freien Sommerzeit. Wir nutzten die stickige Schwüle des Hochsommers, um dem Schreibtisch zu entfliehen und mit Förmchen und Eimerchen meine Spuren im Sand bereits begonnener Agenturprojekte zu bereinigen: Karma-free business. Sie verstehen? Unter freiem Himmel. Auf einer Bank am urbanen Adventuregelände mit Wasserpumpe und Matsch. Die Attraktion: ein Klettertunnel durch den abgelatschten Grashügel mit Ausblick auf das neu errichtete Sportfeld für die größeren Kinder. Erst ab 6 Jahren.
Es dauerte immer nicht lange, bis die ersten Touristengruppen auf den benachbarten Bänken Rast machten und unter den Bäumen Schutz suchten vor der Hitze. Meistens kamen wir ins Plaudern. Waren es Pärchen aus Spanien, Italien oder Frankreich, drehte sich alles um meine Tochter und ihren neu erworbenen Ball. Waren es Deutsche, widmeten wir uns schnell den wirklich wichtigen Themen des Lebens. Oder besser: Sie sprudelten drauf los. Und wir hörten zu. Immer wieder gern thematisiert: Der unsägliche Dreck dieses Molochs Berlins zum Beispiel. Oder der marode Gesamtzustand der Stadtinfrastruktur, bestens zu erkennen an den ramponierten und beschmierten Bänken dieses Spielplatzes. Aber die S-Bahn sei ja auch nicht besser. Und die Autobahnen auch nicht. Aber das sei ja kein Berlinspezifisches Thema. Da müsse man nur mal ins Ruhrgebiet fahren. Am besten zuerst mit dem ICE. Der dann auf Grund der Hitze liegen bleibe. Dann sei man in einer wirklich misslichen Lage. Eingepfercht mit all diesen ganzen Touristen. Vor allem denen aus dem Ausland. Aber die seien ja meisten nett und höflich und sauber. Wenn man sich da hier umschaue und die Kopftuchmuttis sehe. Da werde einem schon komisch. Berlin sei ja schon ein faszinierende Stadt. Aber schön. Nein, das sei sie nun wirklich nicht. Und leben? Um Gottes Willen. Viel zu groß. Zu unfertig. Potsdam, ja in den Gärten und im Schloß. Das sei noch ganz wunderbar. Die Museumsinsel natürlich auch. Und zum Glück bekäme Berlin ja nun auch sein altes Mitteschloß zurück. Die gute alte Zeit eben. Toll auch: das KaDeWe. Und die Friedrichstraße. Und der Gendarmenmarkt. Wunderbare Geschäfte. Da könne man großartig einkaufen. Ach ja, und die Galerien rund um die Auguststraße. Auch toll. Und das Kulturangebot. Ob wir denn vielleicht doch eine schöne Wohnung wüssten. Als Alterswohnsitz. Hier könne man sich ja vielleicht doch die Zeit ganz gut zerstreuen in der Rente. Wenn man es sich genau überlege. Und das Geld anlegen. Das man sein ganzes Leben lang zusammengespart habe. Sicherheit sei aktuell sowie das wichtigste. Angesichts der ganzen Krisen. Aber das könne man sowie nicht mehr ertragen, das ganze Krisengerede. Was könne man da auch schon machen? Außer warten auf den großen Knall? Dann herrsche wenigstens wieder Klarheit und man wisse, wo man dran sei. Also so was wie eine Stunde Null halt. Bis dahin sei es sicher nicht mehr lang. Ob wir denn wüssten, ob die Seefestspiele in diesem Jahr auch wieder Regenschirme für alle bereit halten würden? Man wisse ja nie bei dieser Wetterlage.
Gegen 12 Uhr mussten meine Tochter und ich dann leider immer die kurzweiligen Unterhaltungen verlassen. Essenszeit. Zuerst Einkaufen. Natürlich biologisch. Und dann weiter. Unser Heimweg führte vorbei an einer Kirche. Am Seiteneingang standen jeden Mittwoch Menschenschlagen mit Rollkoffern. Essensausgabe. Laib und Seele. Egal ob biologisch oder aus konventioneller Landwirtschaft. Hauptsache: Irgendwas. An der nächsten Ecke hatte ein Antiquitätengeschäft eröffnet. Schaufensteraufmacher des Sommers. Der erste Weltkrieg. Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. An der Uni hatte ich mich zwei Semester lang mit der Grundstimmung der Deutschen im Kriegssommer 1914 beschäftigt. Heiß soll es gewesen sein. Und stickig-schwül. Die einen hatten soviel Zeit und Geld, dass sie nach immer neuen Zerstreuungen in den Salons und auf Reisen suchten. Und die anderen wussten nicht, wie sie über die Runden kommen sollten. Die Gesellschaft war im Umbruch: Frauen drängten an die Universitäten, Technik, Elektrizität, Mobilität, Industrialisierung, Naturwissenschaften aber auch diverse Lebensreformbewegungen hatten Hochkonjunktur. Aber das Überbordende, das Unübersichtliche überforderte alle. Vor allem politisch. Dschungelhitze lässt Leben sprießen – macht aber vor allem auch klebrig. Und so freuten sich dann auch die Menschen auf den großen Knall. Das reinigende Stahlgewitter. Dabei war die Modernisierung, der Fortschritt in vollem Gange. Und erfoderte bereits den ganzen, den neuen Menschen. Im Alltag. Und nicht auf dem Schlachtfeld. Aber das war wohl zu unglamourös. Zu unspannend für eine Untertanengesellschaft in Uniform.
Ob sich da bis heute wirklich so viel in den Köpfen verändert hat? In Sachen Autoritäten, Eigenständigkeit und Uniformität und Konformität? Anstatt euphorisch loszulegen, warten halt viele immer noch ab. Auf die nächsten Wahlen. Das Ende der Krise. Den Auszug der Kinder. Die Rente. Oder halt den Knall. Denn dann sind wir endlich wieder da, wo wir schon mal losgegangen sind. Kennen wir schon. Haben wir schon gemeistert. Stunde Null. Nach dem Knall.
In den nächsten Ferien nehmen wir unser Mittagessen einfach in Brötchentüten mit auf den Spielplatz. Die blasen wir auf uns lassen sie mit großem Getöse zerplatzen. Damit ihn auch jeder hört, den Knall. Für seine persönliche Stunde Null.