Liebe(r) konkret: Ausserhalb der Wertung
Die Ökonomie kann alles: Menschen verstehen, Prozesse verständlich machen und Gläubiger um den Verstand bringen. Doch in Wahrheit ist alles eine Illusion. Denn was ist ein Wert schon wert?
Veröffentlicht auf: www.fortschrittsforum.de
Es begann bei meinem Anwalt. Die Sache mit dem Wert. Zusammen mit vier seiner Kollegen trafen wir uns in der letzten Woche, um Veränderungen an seiner Webseite zu besprechen. Es war Mittagspause. Nach einer halben Stunde blickten er und seine Kollegen auf die Uhr und verabschiedeten sich mit den Worten: „Wir müssen jetzt los. Weißt du eigentlich, dass wir hier am Tisch gerade 1.500 EUR Stundenlohn verbrannt haben? 5 Typen à 300 EUR. Du verstehst? Also: Tschüssikowski!“ Etwas zermatscht blieben meine Boulette und ich im Spätkauf zurück. Was sollte mir das jetzt sagen? Dass ich gesegnet bin, ein so wertvolles Mittagsmahl eingenommen zu haben? Dass ich in dieser Rechnung überhaupt gar nicht auftauche? Außer: Als Zahlmeister für die Frittenorgie? Denn die Rechnung für das gemeinsame Mahl war standardgemäß meine Sache. Dienstleisterservice für einen Medienpflegejob mit Berliner Freelancerentlohnung. Sie: 300 EUR in der Stunde. Ich: 60 EUR. Vergütung als Wertigkeitsmesslatte. „Mach dir nichts drauß“, sprach mich mitleidig die hübsche Studentin an, die im Spätkauf ihrem Mittagsdienst nachging und wohl unserem Gespräch gelauscht hatte. „Ich mach dir die Fritten für 8,50 EUR die Stunde.“ Also einmal Fritten mit Boulette für 1568,50 EUR. Gut, dass wir mal drüber geredet haben.
Als ich am Abend mit einem Freund telefonierte, der Volkswirtschaft studiert hatte, lachte er kurz über meine Spätkaufanekdote, um dann in das Hohe Lied der Vergleichbarkeit und nachhaltigen Bilanzierbarkeit einzustimmen. „Das ist doch toll, wenn du endlich weißt, was dich der Verzehr deines Mittagsmahls eigentlich wirklich kostet. Dich und uns alle: Die Aufzucht der Tier, der Nahrungsmitteltransport, Wasser, Strom, Müll, Miete, Entsorgung. Da hast du endlich mal Klarheit im Kopf.“
Wie ich diese Litanei hasse. Meine Eltern hatten sie mir des öfteren vorgesungen: Dass ein Kind bis zum seinem 18. Lebensjahr seine Eltern fast 120.000 EUR koste. Und da sei das teure Studium noch gar nicht mit inbegriffen. Schamvoll blickte ich dann abends immer in den Badezimmerspiegel: Hier steht es also – das 120.000 EUR – Investment. Ob das wohl eine gute Anlage war? Sven – der 120.000 EUR-Mensch. Immerhin. Zwar nicht so wertvoll wie der One-Million-Dollar-Man aus einer meiner Lieblingsfernsehserien. Aber auf einem guten Weg.
Als ich letztens auf Facebook eine alte Schulfreundin wiedertraf, überflog ich in Sensation-Seeker-gewohnter Manier ihren aktuellsten Kommentarstream und blieb bei einem Eintrag hängen: „Got my husband back. Now he’s worth half a million dollar.“ Artig gratulierte ich per Blitzeintrag zum Superjob. Worauf ich einen bitterbösen Backlink bekam: „It’s internal, you idiot. He has got cancer. And the last beta-pill was very special.“ Zwei Wochen später verstarb ihr Mann. Was wohl Philipp Missfelder dazu sagen würde? War es das wert? Meine Erfahrung in Sachen Social-Media-Kommunikation jedenfalls war nicht mit Geld zu bezahlen.
Auf der Uni habe ich gelernt, dass die Wertephilosophie sich schon vor fast einem halben Jahrhundert von der Frage nach dem Realitätsstatus der Werte verabschiedet hat und sich statt dessen um die basale Funktion von Werten kümmert, die vor allem in der Zuordnung von Orientierungsgrößen besteht. Es geht also philosophisch gesehen nicht mehr darum, was ein Wert darstellt und auf welcher Grundlage er gebildet wird (das „Wesen“ eines Wertes), sondern um seine Funktion: die handlungsleitende Ordnungsbildung von kulturellen Chaossystemen. Die Ökonomie sieht den monetären Wert eines kulturellen Phänomens ähnlich, fokussiert sich jedoch auf die Bedeutungsvermittlungsfunktion der relationalen Wichtigkeit (Wertigkeit). Die daraus abgeleitet Handlungsaufforderung wird von den Ökonomen eher implizit abgeleitet – und eigentlich an die armen Irren abgegeben, die ihr Leben immer noch mit der Erforschung des Normativen verschwenden.
Es war der Soziologe Bourdieu, der mit seiner Kapitaltheorie die eher philosophisch-kulturtheoretischen Wertansätze mit denen der Ökonomie verband und so die Tür öffnete für die ganzheitliche Bilanzierung von Produktionskreisläufen und Lebensläufen jeglicher Couleur. Mittlerweile wird fast alles auf die letzte Stelle hinter dem Komma heruntersignifiziert. Selbst den Wert der Weltmeeresbeschädigung durch den Klimawandel können wir mittlerweile angeben: rund 2 Billionen US-Dollar (Stockholm Environment Institute: „Valuing the ocean“). Oh Schreck. Das Ende? Keine Panik, sagt da die Ökonomie. Wenn wir uns jetzt mal das Relationsprinzip dieses Wertes zu Nutze machen, sehen wir: Die Weltmeeresbeschädigung umfasst nur knapp ein Fünftel des Staatsschuldenhaushalts der USA. Und was spräche schon dagegen, hier mal die Notenpresse anzuwerfen und den Weltmeeren und uns allen aus der 2 Billionen-Klimaschäden-Klemme zu helfen?
Stellt euch mal nicht so an, liebe Ozeane. Wisst ihr eigentlich, dass wir Menschen für die Studie sicherlich mehrere Jahre Zeit gebraucht haben und unzählige Millionen Dollar an Forschungsgeldern, um auf diesem Standpunkt diskutieren zu können? Wir helfen euch ja dann auch bei der Rechnungsbegleichung. Quasi ein Dienstleisterservice. Irgendwie.
Mal im Ernst: Wenn angesichts zahlreicher Finanzkrisen das Geld an sich in seiner Wertfunktion unsicher ist – was sollen mir dann virtuelle Zahlen über den Zustand der Welt sagen? Könnte ein Bergström die Klimaschäden aus der Portokasse zahlen? Helfen mit diese Zahlen, den Wert zu erkennen um mein Bewusstsein und anschließend auch mein Verhalten zu verändern oder begleiche ich auch diese Rechnung wie immer im Welzerschen Sinne mit meinem guten Namen – nämlich auf Kredit und irgendein andere zahlt es schon?
Sicher ist: Der Weg in die Zukunft führt über eine Wertigkeitsdebatte. Und jedes Phänomen unserer natürlich-kulturellen Welt will gesehen und wertgeschätzt werden. Aber ist die Zahl der relationelle Universalschlüssel? Noch dazu die Zahl als Wertangabe? Dann wäre Gott doch eine Zahl und sein Wert 42.
Wie gut, dass ich erst 36 bin. Dann bin ich noch unterhalb der Relevanzgrenze und damit auf jeden Fall ausserhalb der Wertung.