Liebe(r) konkret 13: Fertiges Land
Heimatbesuch. Nachdem auch die letzte Industriebrache zum Designmuseum mutierte, bleibt unserem Kolumnisten Sven Schlebes mit dem Vorab-Rentenbescheid in der Hand die Frage: Deutschland, ein Land ist fertig?
Veröffentlicht: www.fortschrittsforum.de
Sommerzeit. Ferienzeit. Regenzeit. Meine Familie und ich stehen auf einem Deich am Niederrhein und schauen den vorbeifahrenden Schiffen zu. Sattes Grün, ein weiter Blick zum Horizont, Kühe, Strohballen, Fahrradfahrer, Ruhe. Für Exilberliner ein Paradies. Sollte man meinen. Wäre da nicht die Frage: Warum nicht zurück? Aus Berlin sind wir abgefahren mit dem mageren Vorab-Rentenbescheid meiner Frau, der Aussicht auf die angedrohte Zwangsverrentung für Selbständige und einer angepassten Miete. Das flaue Gefühl inklusive Ermattungserscheinungen nach unzähligen durchwachten Kleinkindnächten inklusive. Zurück – örtlich eine echte Lebensqualitätsalternative. Vor allem die Nähe zur Ursprungsfamilie. Doch der museal ausgeschilderte Deichweg vorbei an scheintoten Industriedesignmusemsflächen und Ausflugslokalitäten übervoll mit Rentnergruppen in Halbarmkaro rufen wach, warum wir einst gingen:
Erst wenn der letzte Bebauungsplan erfüllt, der letzte Vorgarten geharkt, der letzte Radwanderweg geteert und im Naturschutzgebiet ausgeschildert, die letzte Aussichtsbank vom Lionsclub und der Sparkasse gesponsort und die letzte Bürgerhalle klimaneutral und skateboardfrei für den lokalen Politortsverein aufbereitet ist, werdet ihr merken, dass ein fertiges Land irgendwie am Ende ist.
Ein Land, in dem immer alle alles wussten, und natürlich besser konnten als alle anderen. So ein Land ist immer fertig. Fertig im Kopf: Ein Mann, ein Plan, ein Leben. Selbst die Grabstelle ist Jahre im voraus gebunkert. Und das ist nicht nur an meinem geliebten Niederrhein so. Das ist überall dort, wo der Plan der Plan ist und eigentlich kein Platz für wirklich Neues. Gesucht sind hier Planerfüller. Oder euphemistisch: Traditionsliebhaber. Und das gilt sowohl für den Arbeiterkampfverein als auch die Jungschützen.
Doch irgendwas ist anderes geworden in den letzten Jahren. Gut – ich habe meinen Frieden mit dem fertigen Land gemacht und kann mich mindestens einmal im Jahr so richtig fallen lassen. Aber das meine ich nicht. Stellen Sie sich vor: Während des aktuellen Schützenfestes haben die beiden aktuellen Königsaspiranten vor der entscheidenden Endrunde einen Rückzieher gemacht. Das Resultat: In diesem Jahr gibt es zwar das übliche Zechgelage, aber eben kein aktuelles Königspaar. „Zeter und Mordeo“ schreien die Dorfältesten: „König-Sein ist eine Ehre.“ Die Jüngeren dagegen winken müde ab: Zu viel Geld. Zu viel Verantwortung. Und die passende Königin fände sich eh schon lange nicht mehr. Von wegen neue Frauen und so.
Vielleicht ist das fertige Land nun wirklich am Ende mit seinem Latein und beginnt zu suchen. Zwischen Denkmalschutz und Heimatverein und Designkulturmuseum mit Sommer-Open-Air-Aida-Aufführung in jedem Jahr.
Als wir unser letztes Freelancer-Gründer-Seminar an einer Universität gehalten haben, kam uns während der ach so wunderschönen Steuer-, Buchhaltungs- und Sozialversicherungssessions zusammen mit den Studierenden hierzu eine genial einfache Idee: Warum sollen wir Jungen das bestehende System einfach ungefragt von der jetzt in Rente gehenden Babyboomergeneration übernehmen? Was wäre, wenn wir das Welzersche Nachhaltigkeitsmotto des „Was brauche ich eigentlich wirklich?“ anstatt des „Und was kommt dazu?“ auf alles, was uns umgibt, anwenden?
Sie kennen doch bestimmt diesen tollen „1-Minute-Elevator-Pitch“, mit dem Personalverantwortliche und Banker immer so gerne die „Dichtigkeit unserer Ideen und Pläne“ testen: „Sie haben eine Minute Zeit, uns von Ihrer Person / Ihrem Vorhaben zu überzeugen. Wenn Sie das nicht schaffen, ist für Sie beim nächsten Halt der Ausstieg angesagt.“
Stellen wir uns vor, wir drehen den Spieß um und in genau so einem „1-Minute-Pitch“ müssten sich alle Verbände, Ämter, Vereinigungen und Gesetze dem von Bundestagspräsident Lammert immer so gerne beschworenen „gesunden Menschenverstand“ unterziehen: „Erklären Sie uns, warum Sie gebraucht und / oder geliebt werden.“ Wer sich verheddert oder schweigt, muss mit qualifiziertem Umbau oder konsequentem Rückbau rechnen. Wer überzeugt, darf mit auf die Arche ins wunderbare Deutschland 21. Lob der Einfachheit nennen das die Zukunftsforscher. Luft zum Atmen nenne ich es – für ein neues Wir. Und noch grünere Rheinauen mit glücklicheren Kühen – selbstverständlich.
Das wird die längste Minute unseres Lebens.
Ich liebe sie jetzt schon.