Moses allein zuhaus!
Veröffentlicht in der Kolumne „Konkretomat – Liebe(r) konkret“ auf www.fortschrittsforum.de
Alle wollen die Wende. Alle wollen ins gelobte Land. Alle wissen, wo es langgeht. Und alle schreien’s raus. Bis auf die, die verstummen. Schade eigentlich. Denn die Stummen sind meist nicht die Dummen.
Führungsfiguren gab es viele. Selbsternannte. Vorhergesehene und gottgewollte. Eine der bekanntesten war Mose, der Israel aus der Gefangenschaft auf eine 40jährige Wanderschaft mitnahm, um im Land von Milch und Honig eine neue Heimat zu finden. Gerne nehmen ihn Changeberater heute immer noch zum Vorbild, wenn es darum geht, Organisationen auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts einzuschwören. Man nehme eine missliche Ausgangssituation (Gegenwart), eine leuchtende Zukunftsvision (Gelobte Land), eine heimatlose Gemeinschaft und einen gottbeauftragten Weisen mit 10 neuen Masterregeln, genügend Nahrung, die Hoheit über die Naturgewalten und genügend Zeit. Fertig.
Mit dem Mosesprinzip sollen nicht nur Unternehmen auf Vordermann gebracht werden: Selbst Gigantoherausforderungen wie die Energiewende und die europäische Einigung seien damit geradezu ein Klacks: Ein Ziel, ein Leader, eine Truppe. Geschafft. Erst vor drei Tagen ließ mich wieder ein Berater an dieser unendlichen Weisheit teilhaben. Doch was begnadete Unternehmenslenker wie seiner einer nie verstehen werden und wollen: Die Zeiten haben sich geändert. Wir sind schon lange nicht mehr eins, sondern viele. Nicht mehr wir, sondern ich. Und damit eher Beteiligte beim Turmbau zu Babel – nach dem Zusammenbruch und dem Verlust der gemeinsamen Sprache. Der Turm war ein Hohelied auf uns selbst. Auf unsere Konstruktion von der Welt. Doch eben nur eine Konstruktion. Eigentlich müssten wir froh sein, dass der Turmbau schief ging. Dass wir befreit sind von der Illusion eines Megawerkes. Befreit aus unserer selbstgemachten Gefangenschaft. Doch den Mörteleimer hinwerfen will so richtig niemand, um sich auf den Weg zu machen in eine neue und vor allem unbekannte Zukunft. Gelernt ist eben gelernt. Und mit jedem selbstlosen Vatermose, seinem gelebten Leben und einem Weisheitsauftrag inklusive 10 goldenen Regeln in der Hand und dem Versprechen auf ein neues Leben betreten 10 Antimose die Kommunikationsbühne und testen ihre Macht über vor allem virtuelle Naturgewalten. Ihr liebstes Werkzeug: der Shitstorm. Dicht gefolgt vom Bashquake. Dem Frozen-Action-Thunder. Oder der Everything-is-alright-Fata-Morgana.
Während der letzten Monate habe ich mit Führungskräften gesprochen und mit Geführten (irgendwie ist man ja immer beides zugleich) – in Politik, Wirtschaft, Religion, Kunst, Kultur und Sport. Ich habe zugehört. Zugehört. Und: zugehört. Und vor allem eines festgestellt: Die klassische 90-09-01-Regel des Changemanagements und des Social Community – Aufbaus hat für die nachhaltige Veränderung keine Relevanz mehr: 90% passive Konsumente, 9% Manchmal-Einbringer, 1%-Dauerbrenner. Denn die insgesamt 10%-Changemaker sind sich nicht einig genug, um den 90%-Trägheitstanker nach vorne zu bringen. Und da die neue Changemakergeneration eben keine Alphatierklasse alten Musters ist, sondern vor allem teamorientiert, schmerzt sie – insofern sie keine reinrassigen Karrierehonks sind – die Vereinzelung besonders. Die Verunsicherung ob der eigenen Mission steigt. Die Frage nach Richtigkeit, seine Ziele gegen andere durchzudrücken. Und vor allem auch die Lust, ständig auf die 90% zu warten, Verständnis für die ewige Selbstverhinderung und das Kleinkindgehabe: „Die brauchen halt noch Entwicklungszeit. Und das ist der Job der Stärkeren – stets zu Diensten zu sein.“
Reihenweise habe ich sehr gute Menschen verstummen sehen. Sie sind nicht ausgebrannt. Ganz im Gegenteil. Es sind sehr gute, wache, sehr begabte Menschen. Aber eben auch sehr sensibel. Und nicht kampforientiert. Sie meiden Karrierekampfsituation, die harte Menschen erfordern. Aber anstatt in der Auseinandersetzung stark und einig zu werden und in den entscheidenden Momenten dranzubleiben, neutralisieren sie sich eigenständig. Übrig bleiben verhärtete Leader, Strukturnarzisten und sicherheitsorientierte Bewahrer. Eine Übertreibung. Sicherlich. Aber durch die Neutralisierung fehlt langfristig das natürliche Herz der Organisationen. Ein Herz, das sich entschieden hat. Ein Herz, das aus seiner entschiedenen Stärke Menschen verbindet. Immer wieder. Und das weiß, dass Veränderungen sehr sehr viel Zeit brauchen. Dieses Herz lässt das Multioptionsversprechen unserer Karriere- und Konsumzeit verstreichen und entscheidet sich für eine langfristige Vertiefung in der Vertikalen: kontinuierliche Arbeit, unaufgeregt, langfristig angelegt.
So sitzen die Mose dieser Zeit, die zusammen ein echt gutes Kernteam abgegeben hätten, dann allein zuhaus‘ und weiden sich an ihrer Bitterkeit.
Es ist nicht leicht in Zeiten wie diesen, sich langfristig einer Sache zu verschreiben. Lange Durststrecken zu durchwandern, von den Bequemlingen aus der sicheren zweiten Reihe in kritischen Situationen belächeln und nach dem Erfolg geordnet überholen zu lassen. Es ist verdammt schwer, ein Herz zu sein. Aber: Ihr seid nicht allein. Gebt die falsche Konstruktion von euch und dem Leben auf, verlasst den Turmbauplatz und eure Isolation und erhöht den Pulsschlag.
Diese Generation ist eine Brückengeneration: Sie wird nicht ankommen, aber losgehen. Und das ist das Entscheidende!
Auf die Plätze, fertig: Los!