Liebe(r) konkret 06: Vom Kaspern und mausern.
Veröffentlicht auf: www.fortschrittsforum.de
Feind in Sicht: Endlich haben die deutschen Struktureliten wieder einen Gegner. Die Piraten. Schluss mit den quälenden Indikatordebatten und der Neupositionierung. Das alt-geliebte Spiel mit der A-Karte kann beginnen.
So ist das mit der Wahrheit.
Entscheidend ist nicht, was wahr ist, sondern wer sagt, dass es wahr ist. Systemlogik. Seit Monaten quälen wir uns nun durch diese endlosen Sturkturdebatten. Hören Wissenschaftlern zu, verfolgen Weltuntergangsszenarien, nicken bedächtig bei Indikatorenvorschlägen. Und hoffen doch inständig, dass alles irgendwann wieder so ist wie vorher. Bevor dieses Krisengerede in ein Dauerkrisengefühl überging und vor allem mich selbst ganz schlecht aussehen ließ. Weil ich auf einmal nicht gut genug war für diese neue Welt. Zu langsam. Zu wenig gebildet. Zu defensiv. Zu teuer. Zu ineffizient. Von gestern.
Es kam über Nacht. Dieses Gefühl. Und ich habe es nicht darum gebeten zu erscheinen.
Und jetzt. Jetzt stehe ich unter Dauerfeuer. Von allen Seiten. Und auf einmal haben es alle schon immer besser gewusst.
Also, ich kann sie verstehen, die Strukturkonservativen, für die nun eine Welt zusammenbricht. Lange Zeit war ich einer von ihnen. Glaubte ich zu sein. Dann habe ich die Seiten gewechselt. Zu denen, die nicht ins Raster passten. Nicht ins System. Und damit unbrauchbar waren. Zu teuer. Zu ineffizient.
Kurzum: Überflüssig. Und dabei war das einzige, was ich gemacht hatte: Wahrheiten in Frage zu stellen. Und das noch nicht mal, um sie außer Kraft zu setzen. Sondern um sie mir über eine sogenannte diskursive Auseinandersetzung wieder anzueignen. Doch das, so merkte ich schnell, war nicht gewünscht in einem System, das seit Jahrzehnten schon so wunderbar funktioniert. In dem sich alle Teile des Gesamtsystems so wunderbar eingerichtet haben. Und alle miteinander gut organisiert und reglementiert Beachtung finden und irgendwie auch Geld verdienen. Und jeder sich dabei als der moralisch Bessere empfindet. Selbst Demonstrieren bringt Geld. Alles Durchprofessionalisiert. Auch das Empören.
Bis angeblich die Piraten kamen. Schrecklich naiv. Schrecklich unprofessionell. Schrecklich zerstörerisch:“Kapern und herumkaspern“ hat das die FAZ genannt. Und die ist noch nett gewesen. Alle meine Gesprächspartner in den letzten beiden Wochen haben mit einer enormen Aggressivität auf das, nennen wir es – Phänomen Piraten – reagiert. Fast schon panisch. Und doch irgendwie froh. Denn nun ist sie endlich vorbei, die Zeit des Neuüberlegens. Und endlich, endlich kann wieder gebasht werden.
Wissen Sie, ich bin am letzten Wochenende mit der BVG und der Erlebnis-U-Bahn in einem offenen Waggon durch das Tunnelsystem gefahren. Unheimlich war das, aber vor allem die Einfahrt in die U-Bahn-Höfe war eine Offenbarung. Wir behelmten Ausflügler auf dem Wagen fuhren ganz langsam an den Wartenden in den Bahnhöfen vorbei. Und jede Seite schaute sich mit großen Augen abschätzig an: Freakshowtime. Blieb nur die Frage, wer hier der Freak war: Wir auf dem Waggon oder die im Bahnhof?
Geschichtswissenschaftler wissen: Sogenannte Freaks und Narren betreten immer dann die Bühne, wenn alte Systemwahrheiten zusammenbrechen, sich neue abzuzeichnen scheinen und das etablierte Spiel der normalen Menschen auf der großen Bühne des Lebens selbst etwas Närrisches entwickelt hat. Sie tanzen durch die Straßen und Talkshows und halten wie jeder guter Narr den Spiegel vor: Wer spielt denn hier eigentlich ein närrisches Spiel staatsbewappt und fackelbeleuchtet? Wer kapert Institutionen und Gewissheiten? Wer predigt Wasser und trinkt Wein? Und um wen geht es hier eigentlich bei dem ganzen Spiel? Wirklich um das Weltklima? Das hungernde Kind in der Wüste? Den politischen Gefangenen? Oder vielleicht doch nur um den nächsten Blogeintrag und das nächste Diskussionspanel mit Öffentlichkeitsgarantie? Wer weiß das schon.
Piraten sind Piraten sind Piraten. Und was sind wir? Der gute Mensch vom Fortschrittsforum? Wenn man das immer so wüsste.
In meinem Berliner Kiez gibt es eine große Kreuzung. Dort sitzt tagein, tagaus ein älterer Mann mit Pferschwanz auf einer Absperrung und ruft den vorbeieilenden Passanten etwas nach. Manchmal auf Deutsch. Manchmal auf Englisch. Gestern war ich dran: „Hey du da. Grinsekatze. Was tust du? Spielst du Fussball?“
Meine Mitpassanten schauen betroffen nach unten. Mich bringt Mister Pferdeschwanz zum Nachdenken. Ja, was mache ich da eigentlich? Auf der Suche nach der Liebesrevolution bin ich in mich selbst versunken. Das da draußen ist – und da hat Mister Pferdeschwanz Recht – nur Kulisse für meine Wahrheit. Mein Spiel. Meine Vorstellung. Aber will ich mir meine kaputt machen lassen? Ich habe mich auch eingerichtet in meiner Wahrheit. Undurchsichtig. Intransparent verworren. CC 3.0 lizensiert. Mein Spiel heißt: Liebesrevolution. Und wie heißt eures? Mag ich neue Mitspieler? Warum eigentlich nicht.
Lasst die Piraten doch Piraten sein und heißt die neuen Mitspieler „Willkommen“: Das echte Kaperspiel hat doch schon lange vorher begonnen. Wir alle haben irgendwas besetzt. Meinungen. Thesen. Positionen. Strukturen. Geldtöpfe. Partner. Gewissnheiten. Es ist unser kulturelles Selbstverständnis. Unser Habitus. Mal mehr oder weniger ethisch gefärbt. Wer nicht mitspielt, fällt durchs Raster und wacht irgendwann als echter Kaspar genannt Hauser wieder auf.
Vielleicht sollten wir wirklich mal loslassen. Auf See gehen. Auf Reisen. Um uns selbst neu zu entdecken.
Unser ganzes Land. Und die Menschen. Und vielleicht verlieben wir uns dann ja neu. In die anderen. In uns. In unsere Gemeinschaft. Und dann. Ja dann haben wir eine Zukunft.
Nicht im Gleichschritt. Aber gefreestyled.
Also, ich liebe diese Vorstellung jetzt
schon.