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Liebe(r) konkret 05: Das hatten wir doch schon mal!

Veröffentlicht auf: www.fortschrittsforum.de

Es knirscht. Gewaltig. Jetzt reden die Alten. Die, die glauben zu wissen. Wie sie ist, die vielzitierte Zukunft. Nicht ihre. Aber die ihrer Enkel. Unser Kolumnist Sven Schlebes hat sich dem Gespräch mit den sogenannten Erfahrenen gestellt.

Irgendwie stolz war ich ja zu Beginn meiner Kolumnistenreise auf mein Thema: Die Veränderung des Gemeinschaftslebens durch die Liebe. Doch echte Begeisterung habe ich dafür nur wenig getroffen. Lediglich eine junge Frau bekannte bisher aus vollem Herzen: „Ich liebe. Also bin ich.“ (Sezen Tatlici-Ince vom Typisch Deutsch e.V.). Alle anderen Gesprächspartnerinnen und -partner blieben merkwürdig zurückhaltend. Die Jüngeren, weil sie vom Leben scheinbar mehr erwarten als Luft und Liebe: Nämlich Erfolg, Anerkennung, Leistung, Benefit und nicht zuletzt Ruhm. (Vgl. hierzu das gerade erschienene Buch von Inge Kloepfer, das meine eigenen Erfahrungen zu bestätigen scheint: Glucken, Drachen und Rabenmütter. Wie junge Menschen erzogen werden wollen). Meine eigenen Altersgenossen schwiegen mit Vorliebe oder wandten sich definitorisch aus der damit einhergehenden Verbindlichkeitsfalle. Und die älteren Menschen, denen ich begegnen durfte, fiel nur Kopfschütteln ein. Eine sehr nette, ältere Dame zog mich letzte Woche freundlicher Weise kurz zur Seite und erklärte mir, warum: „Das hatten wir doch schon alles, Herr Schlebes. 1968 durchdiskutiert. In den 70’ern ausgetestet. Und in den 80’ern größten Teils ad acta gelegt. Denn dann kam die Einheit. Und damit ganz andere Herausforderungen.“

Jetzt war ich sprachlos. Nicht, dass ich die Diskurse der neuesten Geschichte nicht kannte. Ich habe sie im Studium bis zum Exzess durchgekaut. Doch dieses mentale Verharren auf den Diskursschlachtfeldern der Vergangenheit war mir nicht fremd. Im Gegenteil. Unabhängig vom Sozialmilieu und der parteipolitischen Ausrichtung: Weit über 90% der mir bekannten älteren Mitmenschen beziehen das Selbstverständnis für ihr eigenes Leben immer noch aus der Zeit vor 1990. Egal ob Ost oder West. Und sie weigern sich konsequent bewusst und unbewusst, weiterzugehen, den Frieden mit diesem Land und der weiteren Entwicklung zu machen und zu akzeptieren, dass wir dort sind, wo wir sind. Deutschland – 2012. Und reagieren daher reflexartig auf alle Fragestellungen, die unsere Gesamtgesellschaft gerade bewegt. Noch deutlicher als die freundliche Dame brachte es ein Anwalt nach einer ACTA-Diskussion auf den Punkt: „Herr Schlebes, das steht für uns alles nicht zur Disposition.“

Doch! Alles steht in diesem Land zur Disposition. Aber auch wirklich alles. Und weil die größte Chance, diese Revision vorzunehmen, 1990 verpasst worden ist, drängt die Zeit. Und dabei geht es nicht darum, alles kulturell Erworbene in Schutt und Asche zu legen. Sondern sich der Essenz zu nähern, sie zu verstehen und zeitgemäß neu zum Leben zu erwecken bzw. weiterzuentwickeln. Die Demokratie wird nicht sterben. Keines falls. Sie wird revitalisiert und neu erfrischt.
Und dazu gehört ebenfalls, dass die neuen Generationen kognitiv, emotional und materiell unbelastet von den Diskursen der Vergangenheit diese Themen erneut angehen dürfen. Weil die Zusammensetzung der Gesamtgesellschaft sich verändert hat. Und Normen und Gesetzte, die nicht verstanden werden, als Zwangsinstrumentarium verstanden werden. Deshalb.

Selbstverständlich sind die Dinge, die uns „Jungen“ bewegen, alles alte Hüte: Freiheit. Liebe. Sicherheit. Gerechtigkeit. Einigkeit. Freude. Angst. Erfolg. Geld. Macht. Das Verhältnis von Mensch und Gemeinschaft. Aber es sind ewige Themen. Themen, die situativ vollkommen anders erlebt und gelebt werden. Und sogar anders zum Leben erweckt werden sollen.
Ein Rabbi erklärte mit mal, dass es in der Thora Zeichen gibt, die keine semantische Bedeutung haben, sondern dem Lesenden anzeigen, dass der angezeigte Inhalt vom Leser selbst bestimmt werden soll.

Warum sollte das für die großen Themen des säkularen Lebens nicht genauso gelten? Mit welcher Rechtfertigung verhindert die „Erfahrung“ der Älteren die lernende Aneigung der Jüngeren? Ist das die vielbeschworene Weisheit? Eine Weisheit, die in die paternalistischen Konzepte zum Beispiel der Verhaltensökonomen eindringt und den Menschen unterstellt: „Ihr wisst es eh nicht besser. Wir erfahrenen Experten aber schon. Und daher übernehmen wir für euch mit Regeln die Verantwortung für die Ausgestaltung des Lebens.“

Was ist aus dem Zutrauen zum Menschen geworden? Zur Freiheit? Was aus der vielbeschworenen Fehlerkultur? Der Einsicht, dass alle Menschen scheitern. Ja, entsetzlich versagen. Jeden Tag. Aber so funktioniert wirkliches Lernen. Weil sie so die Chance haben, selbst zu verstehen. Und nicht nur zu wissen. Das ist ein großer, aber entscheidender Unterschied. Und ich hatte immer gedacht, wer wüsste das besser als wir Deutschen, die so schmerzlich gelernt haben in den letzten beiden Jahrhunderten.
Sicher: Die Zeit drängt. Die Herausforderungen sind riesig. Aber genau in der Chance, auch hier wieder alles in den Sand zu setzen, macht den Menschen zum Menschen. Selbstbestimmt. Frei. Natürlich kostet es wesentlich mehr Kraft und Zeit, Menschen zu überzeugen. Und es ist sehr, sehr mühsam, mit Menschen, die nicht verstehen wollen, mitzugehen. Sie zu begleiten. So lange, bis sie verstehen. Aber ist das ein Grund, Themen nicht auf die Agenda setzen zu lassen? Die Vormundschaft zu übernehmen?

Die Herausforderung unserer Gesellschaft heißt: Erwachsen werden. Liebend werden. Und das bedeutet, weiterzugehen, Themen zurückzuholen, sich vielleicht auch ganz anders zu entscheiden, Fehler zu machen, einzusehen, zu verstehen und mit aller Kraft neues Leben zu schaffen. Auch wenn wir das alles schon mal hatten und es bedeutet, zum Beispiel ein altes 50’er Jahre-Haus abzureißen und ein modernes Niedrigenergiehaus aufs Grundstück zu setzen. Was soll denn der Baum vor meinem Arbeitsfenster sagen?

„Frühling – hatte ich schon mal? Warum sollte ich Blätter austreiben mit viel Mühe, wenn sie im Herbst doch eh abfallen werden.“

„Die Jugend wird immer schlimmer. “
Das hatte wir auch schon mal. Und wird auch immer so bleiben.

Aber wirklich viele weise, ältere Menschen. Die habe ich bislang nur im Märchen getroffen.
Aber ich liebe Märchen.
Das Sommer- und Wintermärchen hatten wir schon.
Kommt jetzt ein Frühlings- und Herbstmärchen?