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Ach du liebe Güte!

Liebe trifft Familie
Teil Zwei der Kolumne: Liebe(r) konkret. Veröffentlicht auf dem www.fortschrittsforum.de

Die Reise geht weiter. Die der Liebe. Nach dem Geld sucht sie diesmal den Ort auf, an dem alles begann: die Familie. Ein Heimspiel für die Liebe? Unser Kolumnist hat sich eine Woche einwechseln lassen in den Liebessturm auf dem Spielfeld Vater, Mutter, Kind. Denn entscheidend ist auf’m (Spiel)Platz.

Wer in Sachen Liebe reist, nimmt in der Holzklasse Platz. Ohne Komfortzone. Mit Vollkontakt und Schweißfüßen. Und so machte es für mich nach dem sechsten Interviewtelefonat in Sachen „Liebe trifft Familie“ keinen Sinn mehr, andere auszufragen. Ich musste selber ran. Auch wenn es mir schwerfiel. Denn meine Frau und ich sind ja nicht ohne Grund aus dem heimischen Westen der Republik in die Hauptstadt gezogen. Große Gefühle brauchen viel Platz. Sonst wirst du erdrückt.
So habe ich es zumindest immer empfunden.
Anfang Februar war es dann soweit. Eine Woche Familienfront inklusive Geburtstage, Kaffeetafeln, Altenheimbesuchen und Schnittchen vorm Fernsehen. Eine ganze Woche. Länger als Weihnachten. Mit Wohnen im alten Kinderzimmer. Der Wahnsinn. Ein echtes Experiment.
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Meine Frau und ich sind zwei echte Landeier, groß geworden in einer Welt mit Geschwistern, Vater und Mutter, Großeltern, einem freistehenden Einfamilienhaus mit Blick aufs Grüne. Das Traumlebensmodell der alten Bundesrepublik und der bürgerlichen Mitte. Durchschnittsspießer – wie wir früher häufiger genannt wurden. Eben ohne all‘ das, was andere hatten: Großeltern, die gegen Nazis gekämpft haben, Eltern mit Kommuneerfahren und akademischen Weihen, einem Old-Boys-Network auf’m Golfplatz, echten Parteifreunden, Aufsteigermythen und Weltreisenmitbringselsammlungen.
Aber unsere Eltern waren für uns da, wir hatten drei gemeinsame Familienmahlzeiten, das gemeinsame Wochenende, fuhren zusammen in den Urlaub. Und ja, wir haben immer über alles geredet. Für mich war das früher normal. Mit Liebe habe ich das damals nicht in Verbindung gebracht. Eher mit Selbstverständlichkeit. Heute weiß ich: Dieser bedingungslose Raum des Daseins, des Vertrauens und des Sich-Kümmerns. Das ist die Basis und Ausdrucksform einer tiefen, echten Liebe, die dich wie ein Leitstrahl durch das Weltall tragen kann.
Aber das Merkwürdige bei Elternliebe ist, dass sie vor allem an das Kind gerichtet ist. Das Kind der Eltern. Einmal Kind. Immer Kind. Und deine Geschwister bleiben deine Geschwister. Das kann wunderschön sein. Hat aber etwas Feudales an sich. Unangreifbar. Nicht durch Leistung erreichbar. Von Gottes Gnaden. Familie ist. Und genau das ist das Problem. Aus der Nummer kommst du nie raus. Sind unsere Eltern auch nicht. Bis heute nicht. Das wird bei Festen wie dem Geburtstag der Großmutter deutlich. 50 Leute im Raum.Und sofort schnappen die Rollenmuster zu. Wie Spiderman werden selbst Menschen im Rentenalter von einer dunklen Macht eingefangen und ferngesteuert: Die Macht der Rollenzuweisung. „Du hattest doch schon immer zwei linke Hände. Na, viel vertragen konntest du auch noch nie. Ja ja, dem lagen die Frauen schon immer zu Füßen.“ Vor dem Essen wird gebetet. Wir sind im Grenzgebiet zwischen dem Rheinland und Westfalen. Gottes Land. Das ist halt so. Immer noch. Ein Ritual. Es schenkt Verbundenheit. Sicherheit. Tradition. Denn Familie, das ist auch ein Zeitraum-Kontinuum. Die Vorfahren sind immer mit dabei. Und du trägst ihre Geschichte mit dir herum. Bewusst oder unbewusst. Denn du bist einer von ihnen. Du sprichst ihre Sprache. Hast ihre Körperhaltung. Denselben Humor. Die Geheimratsecken. Da kannst du weglaufen soweit du willst. Um der Macht der Kindzuweisung zu entgehen. Und den Erwartungen. Den strukturellen, emotionalen, kognitiven und materiellen Folgen des gelebten Lebens deiner Vorgänger. Inkorporiert und externalisiert. Die Bänder, die unsichtbaren, sind stark. Fast so stark wie die Liebe. Du bist: die Familie. Die kleine, biologische. Aber auch die große – deine Sozialgruppe, deine Religionsgruppe, die Gemeinschaft deiner Nation. Später dann auch deine Wahlgemeinschaften wie das Unternehmen, deine Lifestylegruppe. Aber eben nur fast. Du bist auch du. Die metaphysischen Bänder zu lösen, immer wieder zu brechen, damit die echte Liebe darunter deutlich wird, die nur will, dass du (und deine Familie) groß und stark wirst und durch dich das Potenzial deiner Familie vollkommen neu zur Ausgestaltung kommt, das ist eine ständige Aufgabe. Für mich ist es harte Arbeit. Kernerarbeit. Denn Familie hasst Veränderung. Sie will Beständigkeit. Denn sie weiß schon immer alles. „War schon immer so.“ Und sie braucht beständige Vergewisserung von Zugehörigkeit und Zuneigung. Familie: Das ist gebende Quelle und saugender Vampir zugleich. Doch Familie ist wie Liebe. Sie ist. Ohne sie wäre ich nicht. Also mache ich besser meinen Frieden mit ihr. Und beginne sie zu lieben.
Vielleicht ändert sich dann ja doch was bei ihr.
Vielleicht auch was bei mir.