Konkretomat 04: Payday
Veröffentlicht auf: www.fortschrittsforum.de
Zeit für eine ganzheitliche Insolvenz: Schluss mit dem kollektiven Selbstbetrug. Freiheit für die kulturelle Wiederaussaat. Es lebe das Zeitalter der bedingungslosen Liebe.
Alina geht. Meine Assistentin und Augenöffnerin. Ein Jahr, ein Motto: Konkret werden. Ihr letztes Wort: „Zahltag.“ Wir haben ein Jahr hinter uns, in dem wir Deutsche die Griechen in die geordnete Insolvenz schicken wollten. Politisch gesehen ein gewagtes Unterfangen, doch für den Neuanfang ohne gewaltsamen Umbruch ist die Idee einer geordneten Insolvenz gar nicht mal so schlecht.Was würde passieren, wenn wir am Ende des Jahres 2011 unsere Gesellschaft in die Insolvenz schicken und ganzheitlich abrechnen – Bourdieu lässt grüßen?
Ökonomisch haben wir und unsere Vorfahren ca. 2Ts Mrd EUR Schulden angehäuft. Nicht schlecht für eine Gesellschaft, die sich rühmt, solide, nachhaltig und im Sinne der nachfolgenden Generationen zu wirtschaften, oder? Knapp 5 Ts Milliarden stehen bei uns an privaten Sparvermögen dagegen.
Ökonomische Bilanz: Ein einfaches, gesellschaftliches Motto: „Unterm Strich – zähl ich. Und zwar mein Konto.“
Kulturell gesehen waren wir mal das Land der Dichter und Denker. Der Idealisten. Der Romantiker. Der Stürmer und Dränger. Der Nobelpreisträger. Der Lebensreformer. Der Künstler. Der Ökobewegten. Der Frauenbewegten. Der Freiheitsbewegten. Der Einheitsbewegten. Der Sozialbewegten. Der Demokratiebewegeten. Der Europabewegten. Ihr kulturelles Kapital umgibt uns überall: Von Schulen über Theaterbühnen und Unternehmenszentralen bis hin zu staatlichen Strukturen. Keine Frage. Ein reiches Erbe. Wir haben von allem viel: Viele Bücher, viele Titel, viele Institutionen, viele Tweeds, viele Supertalente und Weiterbildungsseminare. Alles Da. Und alles scheint gut aufgehoben. Institutionalisiert. Objektiviert. In Form und Titel gegossen: Dr. Global Head of Alles. Pech nur, dass kulturelles Kapital miteinander gelebt werden muss, damit es seinen Wert erhält und entfaltet. Horten allein reicht nicht. Es ja aber auch so verführerisch: Man kann es mit ökonomischen Kapital erwerben. Toll, denn wir alle wollen alles haben. Möglichst so, dass es eben nicht mehr zu einem inkorporierten Kapital werden muss. Oder kann. Sondern dass es das bleibt, was landläufig Kultur im einfältig-bürgerlichen Sinne zu sein hat: Keine starke Lebenskultivierung, sondern ungefährlich-impotente Erheiterung des ach so schweren Alltags, Expertenkultur oder Aufstiegs-Abwehr-Statusausweis in einer sich neudefinierenden Untertanen-Anerkennungs-Gesellschaft: „Ich weiß – du nichts. Aber gut zu wissen. Willst du dafür ein Zertifikat?“ Unser kulturelles Wissen ist überbordend und doch mit Zweifel und Angst zersetzt, mit gutem Gewissen abgegeben an Institutionen und Verwalter, angehäuft als Zertifikatsbescheinigungn und im besten Falle Werkzeug für das Self-Marketing im Globalen Personal-Branding-Markt: Made in Germany. Aber als bloßes Geschwafel: What made for?
Kulturelle Bilanz: Auf dem Papier ein deutliches Plus. Hier sind wir ein unglaublich reiches Land. Aber wie bei dem ökonomischen Kapital liegt es auf Sparbüchern fest und wird nicht nutzbar gemacht. Schlimmer noch: Es verfault. Wie feucht gelagerter Samen. Aus Angst vor Fremdbefruchtung und Fremdverkostung. Virtuelle Quanität vor realer Qualität.
Ähnlich verhält es sich mit unserem sozialem Kapital: Wir alle haben viele Freunde. Im Internet zum Beispiel. Fans oder Follower heißen die dort und heben oder senken schnell den Daumen. Aber helfen sie mit, den berüchtigten Berliner Winterschnee wegzuschippen? Nein. Denn das machen andere. Der Vermieter. Oder der Winterdienst. Oder die BSR. Oder die Versicherung. Irgendeiner halt. Dafür zahlen wir doch. Oder?
Soziale Bilanz: Virtuell vernetzt und real überfordert versetzt. Noch nie waren wir gemeinsam so schrecklich einsam und verlassen.
Am stärksten jedoch leuchtet das Janusgesicht des symbolischen Kapitals: Es sind die lebendigen Grundwerteverkörperungen unseres kulturellen Selbstvergewisserung. Oder zu Deutsch: Die gesellschaftlichen Eliten. Sie und ihr gelingendes Leben verleihen symbolisch sämtlichen Kapitalformen Kreditwürdigkeit. In diesem Jahr gab es wohl keinen Bereich, in dem nicht Hoffnungsträger aufgebaut und wieder verteufelt wurden. Weil sie so sind, wie wir alle. Und damit irgendwie erbärmlich. Dennoch kämpfen sie tapfer und immer im Dienste für die Menschen „da draußen“ unter großen Mühen aufopfernd weiter: Pragmatisch und an der Sache orientiert. Aber eben nicht mehr am Leben und den Grundlagen. Den das haben wir alle vergessen. Und das sehnt sich nach einem neuen Frühling.
Ihre symbolische Bilanz: Ein Trauerspiel auf großer Bühne. Mit ganz viel Selbstgerechtigkeit und -mitleid. Vor allem für sich selbst.
Insgesamt eine magere Ausgangsbasis für erfolgreiche Sanierungsbemühungen eines Insolvenzverwalters. Wäre da nicht die Soziologin Catherine Hakim und ihre Theorieerweiterung um das Theorem des Erotischen Kapitals. Ist nach Berlin also auch Deutschland „Arm aber sexy“?
Alina jedenfalls, mein real erlebtes Erotikversprechen, verlässt Deutschland zum Jahresende, um in Shanghai Geld zu verdienen und in Israel auf die Suche nach den eigenen Wurzeln zu gehen. Der Sex verlässt Deutschland.
Im Frühling will sie wiederkommen.
Ihre Liebe lebt schließlich in Charlottenburg.
Das ist doch mal ein Anfang.
Der einzig richtige.