Cry for me, Mister Pseudot!
>>> Veröffentlicht in der Originalfassung auf www.fortschrittsforum.de in der Rubrik „Konkretomat“, Folge 03. In leichter inhaltlicher Abwandlung und in englischer Übersetzung (Englische Übersetzung: Melanie Läge, Goldene Zeiten Berlin GmbH) ebenfalls publiziert unter www.social-europe.eu.<<<
Da ist es nun, das vielbesungene Wissenszeitalter. Es scheint nur noch wenige dunkle Flecken in unserer Weltvorstellung zu geben – jeder noch so geniale Gedanke ist unzählige Male umgedreht, niedergeschrieben und ausgedrückt worden. Und er wird jeden Tag kommentiert, ergänzt und mit anderen Gedanken vernetzt. Die Noosphäre (P.T. De Chardin, M. McLuhan), natürliches Zuhause einer Welt voller Wissen, ist allgegenwärtig. Und sie ist dichter denn je. So dicht, dass sie uns fast die Luft zum Atmen nimmt.
Dunkle Flecken des Nichts, das waren Räume, in denen einstmals alles möglich schien. Nichts war vordefiniert, vorgedacht, normiert und als Regel ausgegeben. Das Dunkle war absolute Freiheit.
Das Wissenszeitalter jedoch ist gnadenlos total und hasst schwarze Löcher. Ist eines ausgemacht, werden die Wissenslegionen organisiert und zum Debattenbattle gebeten. Zuerst wird das Netz aus bekannten Begrifflichkeiten und Methoden über das Dunkel gespannt, damit man nicht in etwas reinfällt und nicht mehr rausfindet. Dann werden die Netzzwischenräume mit der Erfahrung aus der Vergangenheit zugeschüttet und ordentlich festgetreten: Und fertig ist die Okkupation unerkannten Terrains. Indikatoren sei dank.
Voll Gewissheit haben wir unsere Welt erobert, in der alles von Theorien und Wissen durchdrungen schwirrt und uns doch die Sicht nimmt und die Luft zum atmen. Wir merken, dass alles Wissen und unsere Erfahrung nichts nutzen, um die lebendige Welt, die unter der Noosphäre versteckt ist, wirklich zu entdecken, geschweige sie denn wirklich zu verstehen. Im Gegenteil. Das ganze Wissen scheint das reale Leben letztlich sogar daran zu hindern, sich zu kräftig entfalten. Unsere Indikatoren sind eben doch nur: unperfekt.
Unser Wissen scheint uns bei der Selbstwahrnehmung zu helfen, aber schon bei der Selbsterkenntnis ist Schluss. Denn die würde schnurstracks in eine heilende Katharsis führen, in der die liebende Selbstannahme der ewig Gescheiterten wartet und auf einen gemeinsamen Neuaufbruch drängt: Hinaus in eine freie, noch unbekannte Welt, die gemeinsam entdeckt und gestaltet (kultiviert) werden kann. Um natürlich wieder zu scheitern. Aber auch, um zu leben.
Wir Bewohner des Wissenszeitalters leben im Zustand einer Pseudokatharsis. Jeder schreit: „Weiß ich schon.“ Aber niemand von uns versteht wirklich. Der Schmerz und die Reue bleiben aus. Und damit auch die Reinigung.
Will das Fortschrittsforum wirklich erfolgreich sein und etwas bewirken, sollte es vielleicht zuerst einmal nicht nach noch mehr Wissen fragen, nach Wirtschaft, Nachhaltigkeit und Fortschritt. Sondern erst mal nach weniger, um durchatmen zu können und den Blick freizubekommen für Herzen, die leiden: das Herz der Menschen, das Herz Europas und auch das Herz der sozialdemokratischen Idee.
Sie leiden, weil sie verletzt worden sind. Immer und immer wieder. Die schlechte Nachricht: Die Verletzungen schmerzen, sie machen unsicher und verzagt. Die gute Nachricht: Das ewige Gebrochen-werden hat die Herzen davor bewahrt, zu versteinern. Die Herzen sind lebendiger als jemals zuvor. Und sie sind verdammt stark.
Aber was singen sie für ein Lied? Ist es ein Lied der Verzweiflung, des Selbstmitleids und des Hasses? Es ist ein ganzer Chor, der verschiedenste Melodien anstimmt. Und sie alle wollen angehört werden.
Sie alle eint die Harmonie der Enttäuschung: Die neue Welt des 20. Jahrhunderts – eine Enttäuschung. Die neue Gemeinschaft des 20. Jahrhunderts – eine Enttäuschung. Der neue Mensch des 20. Jahrhunderts – eine Enttäuschung. Alle Bilder, mit viel Herzblut besungen, sind blaß geworden und zerstoben. Weil sie den Erwartungen und dem Leben nicht stand gehalten haben.
Wir Europäer, und insbesondere wir Deutschen, befinden uns in den Katakomben unseres gewussten Weltbildes. Gefangen im ewig gleichen Spiel des illusionären Wahrheitswahnsinns (Mediamarkt lässt grüßen), immer auf der Suche nach dem besten Wahrheitsschnäppchen: „Das ist jetzt aber wirklich die ultimativ letzte Wahrheit!“ Und mit einem Knall erweist sich auch diese wiederum als Illusion.
Warum, so singen die Herzen, weitersuchen? Warum dafür kämpfen? Europa, ein Burn – out – Kontinent. Es ist nicht der Stress, der uns überfordert. Es ist die nicht geleistete Trauerarbeit. Wir Menschen sind zu schnell für unsere Seelen. Sie brauchen etwas Zeit, um uns und unsere Systeme einzuholen, die wiederum aber keinen Stillstand dulden, weil sonst alles zusammenbrechen würde.
Aber dieses Flicken bleibt Stückwerk. Denn wir Menschen bleiben ohne unsere Seelen seelenlos. Und so ist alles, was wir tun, ebenfalls seelenlos. Und damit erneut zum Scheitern verurteilt.
Wenn das Fortschrittsforum wirklich teil haben will am Leben, dann sollte es den Weg in die Katharsis wagen und zuallerst Trauer tragen. Trauer um unsere alten Weltbilder, um die Menschen und ihre Hoffnungen. Trauer um einen absoluten Verlust. Und vielleicht nehmen wir Fortschrittler uns dann so an, wie wir sind, und bekennen wie der norwegische Kornprinz Hookon in einer der dunkelsten Stunden seines Landes: „Heute Abend sind die Straßen mit Liebe gefüllt. Wir stehen vor einer Wahl. Wir können das Geschehene nicht ungeschehen machen. Aber wir können uns entscheiden, was es mit uns als Gesellschaft und als Einzelne macht. Wir können uns dafür entscheiden, dass niemand allein stehen muss. Wir können uns dafür entscheiden, zusammenzustehen.“
Denn genau das ist die eigentliche Melodie des sozialdemokratischen Herzens, tief vergraben unter den Begriffen von Gerechtigkeit und Umverteilung und Aufstieg und Teilhabe: „Wir können uns dafür entscheiden, zusammenzustehen.“
Und wir können uns dafür entscheiden, das Leben nicht als Schlachtfeld zu sehen, die Menschen nicht als Gegner oder Wahlstimmenabgeber, sondern als gemeinsame Entwicklungsgemeinschaft. Die Menschen suchen aktuell nicht nach einem neuen fertige Programm für die neue Welt. Sie suchen nach einer Weggemeinschaft, die mit ihnen zusammen neue Wahrheiten entdeckt – und nicht vordefiniert.
Daher: Sei kein Pseudot. Weine dich erst mal rot – und komme in Kontakt mit dem Leben.