Auf der Suche nach dem Licht
Jeder fünfte Deutsche ist psychisch krank, das Nachrichtenmagazin Der Spiegel widmete den Themen »Burnout« und »Depression« zwei Titelgeschichten in diesem Jahr. Theo-Redakteur Sven Schlebes (35) lag selbst in den Armen der Depression, und auch um sich von ihr zu verabschieden, schrieb er diesen Text. Die Schatten jedoch werden bleiben, so ist es zu befürchten. Ein Erkenntnisbericht.
AUF MEINEM LAGER ZUR NACHTZEIT SUCHTE ICH IHN, DEN MEINE SEELE LIEBT, ICH SUCHTE IHN UND FAND IHN NICHT.
Shakespeare soll an ihr gelitten haben, Jesus Christus seit seinem Besuch im Garten Gethsemane, und wir Europäer auch, wir, auf der sogenannten Sonnen – seite des Lebens? Auf dieser Sonnenseite ist in Millionen Menschen 24 Stunden am Tag finstere Nacht. Wie ist das möglich? Der Wohlstand treibt uns vor sich her, das Internet ermöglicht unbegrenzten Zugang zu Informationen und Menschen. Bei Jobverlust springt die Sozialversicherung ein. Und doch leiden viele von uns an der Welt, am Leben, an sich selbst. Wir sind müde und abgespannt, reizbar, ohne Orientierung und Lebensfreude. Die Sonne vermag das tiefe Dunkel in uns nicht zu erhellen – und als Geschöpfe dieser inneren Nacht saugen wir andere aus in der Sehnsucht nach Hilfe: Und machen sie uns dadurch unbeabsichtigt gleich. Immer mehr Menschen, vor allem Frauen, sind so in der Depression gefangen, dass sie den Freitod wählen. Bei uns Männern zeigt sie sich häufig in einer Variante, die heute Burnout heißt: Am Punkt der Selbstaufgabe tauchen wir auf aus dem Zustand der passiven Aggression, blähen uns auf wie eine sterbende Sonne – und kollabieren. Ein Cocktail aus Hoffnungslosigkeit, Angst und Resignation löscht die Erinnerung an das Licht in uns beinahe aus, der Hoffnung auf einen neuen Morgen bleibt kaum noch Raum. Der Leidensdruck ist zu groß, die Suche nach einem Ausweg kaum mehr möglich. Zu Recht wird die Depression inzwischen als Krankheit verstanden und als Bedrohung für das Gemeinwesen. Nach den Großen Depressionen 1873 und 1929 soll die Zeit bald wieder reif sein, so orakeln nicht nur Hellseher. Was passiert mit einer Gesellschaft, in der die Sammelwut der Depression die Oberhand gewinnt? Aller modernen Behandlungsmethoden zum Trotz finden nur wenige von uns den Weg zurück ins Leben. Weil wir die Welt und ihren Zustand nicht begreifen können. Und weil wir schwer loslassen können. Im Schatten zu liegen ist bequem und gibt scheinbare Sicherheit.
AUFSTEHEN WILL ICH DENN, WILL DIE STADT DURCHSTREIFEN, DIE STRASSEN UND DIE PLÄTZE, WILL IHN SUCHEN, DEN MEINE SEELE LIEBT. ICH SUCHTE IHN UND FAND IHN NICHT.
Dabei waren viele von uns einst Sonnenkinder, wir staunten über den Zauber der Welt, waren Teil eines Lebens, das Sinn machte: Wir waren eingebunden in ein gesundes Umfeld, da waren Familie und Freunde, und wir taten Dinge, weil wir sie liebten. Einfach so. Das Leben und wir – wir waren eins. Doch irgendwann fielen wir heraus aus dieser Einheit, und wir fielen immer tiefer, ganz anders als jene Menschen, die nur phasenweise in eine Winter- oder Wochenbettdepression rutschten. Und niemand war da, der uns hielt. Für Experten ist die sogenannte frühkindliche Deprivation, zumeist erfahren als emotionale Vernachlässigung, neben Missbrauchsfällen eine der häufigsten Ursachen für die innere Dunkelheit. Die physische, psychische oder emotionale Abwesenheit eines Elternteils ist verantwortlich für eine Grunderschütterung des jungen Menschen, so dass kaum Kraft da ist für den nächsten zu bewältigenden Sturm. Bei mir soll es – Psychologen zufolge – die fehlende emotional-stärkende Präsenz meines Vaters gewesen sein, die mir als Sensibelchen den Erwerb von Selbst – sicher heit und Selbstvertrauen erschwert hat. Die Folge: Eine freie und bejahende Lebensverortung geriet zur Meisterauf – gabe – Einsamkeit inbegriffen. Die schlimmste Form der Einsamkeit, die in Beziehungen aller Art, ist vielen Menschen vertraut, aber das hat mich lange nicht trösten können, im Gegenteil. Und auch die Erkenntnis, dass mein Vater ebenso die emotionale Unterstützung seines Vaters vermisst hatte. Die Depression – eine Familienaufgabe. Und so machte ich mich auf den Weg, den zu finden, der da ist – und nah ist.
ES FANDEN MICH DIE WÄCHTER, DIE DIE STADT DURCHSTREIFTEN: HABT IHR IHN GESEHEN, DEN MEINE SEELE LIEBT?
Am Anfang war es eine Suche nach der Ursache für das schale Gefühl, dass »kein richtiges Leben im falschen« möglich ist (Adorno). Wo auch immer ich hinkam, das Leben entsprach nicht meinen Vorstellungen. Die meisten Menschen taten Dinge, die sie nicht wirklich tun wollten, die sie nicht liebten. Damals wurde ich entäuscht, immer und immer wieder! Rückblickend weiß ich: Es war eine Befreiung; eine Befreiung von Illusionen. Denn nicht nur ich war rausgefallen aus der Einheit – die anderen waren es auch. Nur überspielten es die meisten und stilisierten es zum Kampf des Lebens. Die letzte Illusion zerstob während des Studiums: »Gott ist tot!« proklamierte die Philosophie der Moderne, und in die Postmoderne gestoßen fand sich ein noch einsameres Individuum, das sich seine Welt selbst zusammenzimmert und dessen einzige Religion heißt: Geld und Konsum! Das sollte der große Traum des freien Menschen gewesen sein? Gefangene eines selbsterdachten und -referentiellen Systems, das nicht mehr fü̈r die Menschen da ist, das seine Wurzeln vergessen und sich verselbständigt hat. In der Bibel fallen Illusionen durch das reinigende Fasten in der Wüste. Denn die Wüste, so durfte ich während meiner Reise durch die Depression erfahren, ist fest in Gottes Hand. Auch wenn er sich nicht zeigt. Am Ende seiner 40 Tage saß Jesus Christus auf einem Felsen – gehüllt in ein einfaches Leinengewand. Und begegnete dem Widersacher.
KAUM WAR ICH AN IHNEN VORÜBER, DA FAND ICH IHN, DEN MEINE SEELE LIEBT.
An dieser Stelle werden die meisten von uns schwach! Jesus wurde es nicht. Und es umgaben ihn Engel und dienten ihm, wie es sich gehört für Gottes eingeborenen Sohn. Ich hingegen gehörte zu jenen, die aufgaben. Weil ich den, den ich suchte, nicht fand. Da saß ich. In meiner ganzen Fehlerhaftigkeit. Ermüdet. Ermattet. Verzweifelt. Am Ende. Es war meine dunkelste Nacht.
ICH BESCHWÖRE EUCH, TÖCHTER JERUSALEMS, BEI DEN GAZELLEN ODER BEI DEN HIRSCHKÜHEN DES FELDES: WECKT NICHT, STÖRT NICHT AUF DIE LIEBE, BEVOR ES IHR [SELBER] GEFÄLLT!
Als ich wieder erwachte, ging die Sonne auf und meine Tochter wurde geboren. Sie schreit, sie wird wütend, bald wird sie krabbeln, sich aufrichten, sie wird fallen und wieder aufstehen – und irgendwann steht sie auf eigenen Beinen, wie jeder Mensch. Aus ihren klaren Augen blickt ein mir noch unbekanntes Wesen, und doch wiederum alle, die vor mir waren. Mein Vater und Großvater inklusive. Nun sind sie mir nahe, und es liegt an mir, wie nahe ich ihnen und meiner Tochter bin. Da wusste ich: Das Spiel ist schon gewonnen. Jesus Christus hat gesiegt. Das ewige Leben hat gesiegt. Vielleicht hat doch alles seinen Sinn. Das Herausfallen aus der Einheit. Die Suche. Das Untergehen von Illusionen. Das Finden. Das Aufgeben. Das Aufgehen der neuen Sonne. Das Leben. Auch wenn wir es nicht verstehen können. Aber lieben können wir es.//
Abgedruckt in der Theo .- Ausgabe 3/2011