Ich nerde, du nerdest, er nerdet: wir nerden!
Die Faszination Technik trägt religiöse Züge, es sind die Programmierer, die Beherrscher der virtuellen Welt, die Dinge machen, weil sie möglich sind, weil sie funktionieren und weil niemand anders sie kann? Theo-Redakteur Sven Schlebes machte sich auf die Suche nach den Schöpfern der schönen neuen Welt – und entdeckte dabei den Nerd in sich.
Und Gott sprach: »Es werde Licht.« Und es wurde Licht.
Jeden Tag auf meinem Weg in die Redaktion kreuze ich mit dem Rad zwei vierspurige Hauptstraßen. Und jeden Tag fällt an mindestens einer Kreuzung die Ampelanlage aus. Ein kleiner Computer – chip hat seinen Geist aufgegeben – das Farbballett in Grün, Gelb und Rot ist verschwunden, Chaos ist die Folge. Sehr bald ist ein Techniker vor Ort, der sich auf die Suche macht nach dem Fehler im Schalt – kreis. Das letzte Mal durfte ich einen Blick in die Black Box der Verkehrsleitung werfen, auf Kabel und Steuerungsplatinen. Da ging mir selbst ein Licht auf: Es gibt eine Welt hinter der Welt. Eine Welt, die in Kabeln lebt, durch Schaltkreise und Lichtimpulse. Eine Welt, die ich täglich über den Bildschirm meines Computers und Mobiltelefons oder versteckt in der Technik meines Autos nutze, die ich aber nicht verstehe. Aber sie regelt mein tägliches Leben da draußen, wo die Sonne aufgeht. Ich muss ihr vertrauen, weil ich von ihr abhängig bin.
»Ein Gewölbe entstehe mitten im Wasser und scheide Wasser von Wasser.«
Es gab mal eine Zeit, da habe ich ihre Sprache gesprochen, die der Computer und ihrer Entwickler – den Baumeistern der Welt hinter der Welt. Es war in den 80er Jahren, und der erste Computer, mit dem ich zusammentraf – er stand im Büro meines Vaters – war ein C 64, zu ihm gehörte ein ratternder Nadeldrucker, der auf Endlospapier Zahlenkolonnen ausspuckte. Für jedes externe Programm musste eine Floppy-Disk in ein Laufwerk geschoben werden, das minutenlang surrte: Auf dem schwarzen Monitor erschien ein heller, blinkender Cursor. Der erste Funken Leben. Der Anfang. Hell auf Dunkel. Und war es eine Spielediskette, clusterten sich mehrere Cursors zu Gebilden wie einem Hubschrauber zusammen, der über Datenströme, die Ozeane darstellen sollten, flog und Hindernisse wegbombte. Manchmal blieb das Laufwerk hängen und wir mussten zum »special licenced dealer« – einem Holzfällerhemd-tragenden 25-Jährigen mit großer Hornbrille, der die meiste Zeit in einer Garage saß und an Geräten herumlötete. Und wenn er nicht da saß, war er in den USA auf der Suche nach neuen Geräten. Ein echter Nerd eben, verschroben und weltfremd. Doch er schien heilende Hände zu haben – bald surrte mein Laufwerk wieder und der Cursor blinkte auf dem schwarzen Monitor.
»Das Land lasse junges Grün wachsen, alle Arten von Pflanzen, die Samen tragen, und von Bäumen, die auf der Erde Früchte bringen mit ihrem Samen darin.«
Damit ich meine Hausaufgaben nicht vergaß, stellte mein Vater Bedingungen für die Computernutzung. Ich musste das Programmieren selbst erlernen. Mit der Programmiersprache BASIC und meinem ersten Befehl sollte ich der neuen Welt in einer ganz eigenen Poesie meine Ehrerbietung zeigen: 10 PRINT »Hallo Welt!« Ich verstand: Der Computer machte alles, was ich ihm befahl. Insofern der Code sauber geschrieben war und meine eigene Logik glasklar. Ein Wort genügte und eine neue Welt entstand. Ein Freund hatte schon einen moderneren Rechner – einen Amiga, damit wurden schon komplexe Rollenspiele geschrieben und ganz eigene Welten entdeckt. Doch das war nicht der einzige Unterschied zwischen uns. An einem Tag, wir spielten ein besonders kniffeliges Level durch, geschah etwas, das unsere Wege trennen sollte: Während ich entnervt aufgab und mit einem Eis wieder in die Sonne ging, schloss er sich in sein Zimmer ein – und knackte den Quellcode. Er hatte einen Weg gefunden, direkt in das Skript der virtuellen Welten einzugreifen und sich so zum unbesiegbaren Gott des Spieles zu machen. Damit fuhr er einen Highscore nach dem anderen ein, während mir mehr und mehr die Lust am Spiel verging.
»Lichter sollen am Himmelsgewölbe sein, um Tag und Nacht zu scheiden.«
Während wir Normalos in der Schule lernten, weiße Cursor in einem bunten Farbregen explodieren zu lassen, traf sich mein Freund mit anderen Nerds und schloss völlig sinnfrei Kühlschränke an die Rechner an, um die Eisfachlampe per Mausklick ein- und ausstellen zu können. Als wir Abitur machten und die Pausen mit Mädchen verbrachten, hatten die Bastler bereits Unternehmen aus der Stadt mit eigenen Programmen und Betriebssystemen den Weg in die neue virtuelle Welt aufgezeigt und genug Geld verdient, um in den USA zu studieren.
»Das Wasser wimmle von lebendigen Wesen, und Vögel sollen über dem Land am Himmelsgewölbe dahinfliegen.«
Wir nahmen sie nicht wirklich ernst, ihre Welt bestand aus stupiden Wenn-Dann- Befehlen, und Frauen hatten sie auch nicht. Und der sichere Beweis für kulturelle Unverständnis: Die Nerds entwickelten ihren eigenen Humor: »Was sind zwei Lemmas? Ein Dilemma.« Als mir vor einigen Tagen mein Laptop nach einem Windowsupdate abschmierte, war zufällig mein Nerd-Freund in Berlin und half mir, in 30 Minuten sämtliche Systemsicherungsschranken zu umgehen, mein Passwort zu löschen und das alte System wieder herzustellen. Eine deutliche Offenbarung des Klassenunter schiedes: Ich war und bin ein System nutzer. Er war und ist ein System entwickler. Ohne ihn bin ich aufgeschmissen. Wir sprachen über seine Freunde, die schon vor Jahren den Weg in den Untergrund angetreten hatten, ihrer Eitelkeit frönten und mit Freude Screenshots von Systemab – schüssen verschickten. Und von anderen, eher künstlerischen Weggefährten, die an Universitäten versuchten, die Schönheit des mittlelhochdeutschen Reimverses in die Programmcodes von Onlineshops zu projizieren: »Code is poetry!« Er selbst helfe im Auftrag des Chaos Computer Clubs manchmal mit, Sicherheitslücken in Computersystemen ausfindig zu machen. Und ja, eine Frau habe er mittlerweile auch. Mein Nerd- Freund hatte also doch Gefühle, er schien mir sogar sehr empfindsam. Wie jeder Künstler suchte er sich sein Medium, um sich auszudrücken. Die Nerds, die allmächtigen Baumeister der Moderne, vielleicht waren sie ja doch Freaks mit einem Herz voll Poesie? Aber was ist mit Hackangriffen auf Atomkraftwerke und Flughäfen? Mit den neu aufgestellten Cyberwarrior-Truppen der Armeen dieser Welt, die die Bankkonten ins Visier nehmen und die Datenbanken großer Unternehmen?
»Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich.«
Das neue Projekt meines Freundes: die Arbeit an einer Art Scannerbrille, die bei einem Stadtbummel sofort alle Informa – tionen über entgegenkommende Personen sichtbar macht. So ist die virtuelle Welt mit der realen verbunden und Neues kann entstehen. Eine Welt, in der die Macht von den Menschen ausgeht und nicht von den Systemen. Schließlich hat Gott dem Menschen den freien Willen geschenkt – einen Willen zur Liebe und einen Willen zur Zerstörung. 22 2/2011 theo Report Mir wurde klar : Wir beide waren immer noch Freunde im Geiste und Herzen. Romantisch, idealistisch: Späthippies auf der Suche nach einer anderen Welt. Einer besseren. Und wir geben erst dann Ruhe, wenn sie entstanden ist, unsere neue Welt. Mit Türmen aus Jaspis und Edelsteinen. Was er denn in seiner neuen Welt zu finden hoffe, fragte ich ihn beim Abschied. »Alles«, schmunzelte er zurück. »Und nichts. Es bleibt ein faszinierendes Spiel. So wie früher.« Es bleibt ein Spiel, vor dem ich Respekt habe, und es liegt an uns, wie wir das Spiel spielen.
Am siebten Tag vollendete Gott das Werk, das er geschaffen hatte, und er ruhte am siebten Tag, nachdem er sein ganzes Werk vollbracht hatte.//
Abgedruckt in: Theo 2|2011